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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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anhaben können, davon war Thankmar überzeugt.
    Zwei Wochen waren vergangen, seit der Bastard Harald Gormsson vor dem Volk eingeknickt war. Wie ein räudiger Köter, den man zur Ordnung prügelte, hatte sich der Dreckskerl den Steinewerfern gebeugt.
    Nach einer Weile ebbten die Krämpfe ab. Thankmar beruhigte sich allmählich wieder und erhob sich.
    Inzwischen waren die Schatten länger geworden. Bald würde die Sonne untertauchen, jenseits des Walls aus Holz und Erde, mit dem die Burg umgeben war. Gesäumt von dichten Wäldern, stand die Anlage unweit einer Furt des Flusses Egidora. Durch diese Furt führte der Heerweg, den man wegen der Viehtriebe auch Ochsenweg nannte. Der Fluss markierte die südliche Grenze der unter Thankmars Verwaltung stehenden Mark, das Danewerk die nördliche Grenze. Die Anlage war bereits vor vielen Jahren errichtet worden, damals noch von Dänen, bevor der Sachsenkönig Heinrich sie vernichtend geschlagen und hinter das Danewerk zurückgetrieben hatte. Seither hatten auf dieser Burg die Markgrafen gelebt, zuletzt Wichmann, dann Thankmar.
    Innerhalb des Walls stand ein gutes Dutzend Holzhäuser. In den mit Stroh gedeckten Hütten lebten die Soldaten und Bediensteten, in Ställen waren die Pferde und das Vieh untergebracht. Thankmar bewohnte das größte Haus, das auf einer Erhebung stand, die immerhin so hoch war, dass er durch das Fenster über den Schutzwall hinwegschauen konnte – hin zu den Wäldern, in denen irgendwo die Seherin hauste.
    Er drehte sich zur Tür um, als draußen einer der wachhabenden Soldaten hustete.
    Dann trat er wieder vor das Fenster.
    Bald würde die Nacht hereinbrechen, und mit der Dunkelheit würden die grauenvollen Träume wiederkommen.
    Seit seiner Rückkehr vom Hafen hatte er die Burg nicht mehr verlassen. Wie ein Gefangener ließ er sich Essen und Trinken ins Haus bringen, ließ den Eimer, in dem er seine Notdurft verrichtete, ausleeren. Alles Zureden von Hauptmann Ernust hatte nichts geholfen, auch Bischof Poppo war ohne Erfolg wieder abgezogen. Thankmar konnte keine Gesellschaft ertragen.
    Er traute niemandem. Das hatte er zwar noch nie getan, aber seit die Seherin ihn verflucht hatte, kam es ihm vor, als ob er ausschließlich von Menschen – und Geistern! – umgeben sei, die nur eines wollten: ihn um sein Erbe bringen, den Thron!
    In lichten Momenten versuchte er sich einzureden, dass weder Ernust noch Poppo noch irgendjemand anderer auf der Burg ihm sein Gold und Silber stehlen würde – oder jenen Schatz, der noch weitaus wertvoller war. Dann übermannten ihn wieder die dunklen Gedanken. Gedanken, in denen von finsteren Mächten gedungene Gestalten in sein Haus einbrachen, um ihm die letzte Hoffnung auf sein Erbe zu nehmen.
    Thankmar bewegte sich vom Fenster weg, um zum dritten oder vierten Mal an diesem Tag nachzuschauen, ob alles noch an seinem Platz war.
    Die mit drei Schlössern gesicherte Truhe hatte er in eine dunkle Ecke geschoben und mit Tüchern bedeckt. Jetzt nahm er die Tücher herunter, öffnete die Lade mit den Schlüsseln, die er immer bei sich trug, und klappte den Deckel auf. Das letzte Sonnenlicht glitt über den Inhalt, der die Truhe noch etwa zu einem Drittel füllte. Einen großen Teil seiner Schätze hatte er für den Angriff auf Hladir aufwenden müssen.
    Es glitzerte und funkelte in der Truhe: Silbermünzen, aus Goldfäden gedrehte Halsringe, Fibeln, Perlenketten, Ringe mit Edelsteinen und Bernsteinamulette waren darin – all die Sachen, die er den Menschen in der Mark abgenommen hatte.
    Die wenigsten Dänen hatten ihm ihre Kostbarkeiten freiwillig ausgehändigt. Aber Thankmar besaß ein feines Gespür, wenn es darum ging, jene Orte ausfindig zu machen, an denen die Leute ihre Reichtümer versteckten. Und hinterher – er musste beinahe kichern bei dem Gedanken –, wenn er ihnen die Sachen unter die Nase hielt, die sie ja angeblich gar nicht besaßen, hätte jeder Einzelne von ihnen alles dafür gegeben, vorher mit Thankmar zusammengearbeitet zu haben. Was waren schon eine Kette oder eine Fibel gegen eine abgeschlagene Hand oder einen erhängten Sohn?
    Vor der Tür waren die gedämpften Stimmen einiger Soldaten zu hören. Wahrscheinlich fand gerade eine Wachablösung statt.
    Thankmars Laune besserte sich. Er musste seine Zuversicht nutzen, bevor der Fluch wieder über ihn kam. Daher legte er sich schnell goldene Reife um den Hals, schmückte seine Finger mit Ringen und drehte sie an seiner ausgestreckten Hand, damit

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