Das Lied des Todes
Existenz des Allmächtigen beinahe körperlich zu spüren war.
Ob Ketil es mit einem Gebet versuchen sollte? Mit dem Vaterunser?
Wieder knackte der Ast.
Schnell begann Ketil: «Pater noster, qui es in caelis – Vater unser im Himmel …»
Der Ast neigte sich weiter hinunter.
«Geheiligt werde dein Name, dein Wille …»
Ketil spürte, wie der Ast nachzugeben drohte.
Ich muss es versuchen, schoss es ihm durch den Kopf, während er weiter das Gebet aufsagte.
Jeden Augenblick konnte der Ast brechen und somit das Ende des Mannes besiegeln, der dem Tod so häufig hatte trotzen können: Er war vor ihm über das Nordmeer geflohen, war in der Stadt Colonia dem Galgen entgangen und hätte erst vor wenigen Tagen in Haithabu hingerichtet werden sollen. Dreimal war er dem Tod aus nahezu aussichtsloser Situation entkommen. Doch nun schien es, als hole er ihn in diesem Sumpf ein.
«Et ne nos inducas in tentationem …»
Hatte die Geduld des Allmächtigen mit seinem Diener ein Ende?
«Sondern erlöse uns von dem Übel …»
Los, jetzt!
«Von dem Übel … Amen!»
Er drehte sich im gleichen Augenblick zur Erle herum, als der Ast unter seinem Gewicht brach. Schnell reckte er seine linke Hand nach dem Stamm, während der Morast ihn schmatzend und blubbernd einsog. Allerdings konnte Ketil nun, da seine rechte Hand frei war, den Oberkörper weiter ausstrecken. Es gelang ihm, mit der linken Hand das Kordelende um die Erle zu legen und es dann mit der rechten um den Baum zu ziehen.
Und jetzt ziehen! Ziehen, ziehen!
Die Fasern knirschten, als Ketil Stück für Stück wieder aus dem Sumpfloch auftauchte, bis sich seine Hände endlich um den Stamm schlossen. Dann ein letzter kräftiger Ruck – und Ketil war frei.
Auf dem Rücken blieb er unter dem Baum liegen, bis er wieder zu Atem kam.
Das war jetzt das vierte Mal, o allmächtiger Gott, dachte er. Wenn das so weitergeht, werden wir beide doch noch richtig dicke Freunde.
Da schickte ihm der himmlische Vater ein Zeichen – allerdings eines, auf das Ketil gut und gerne hätte verzichten können. Er spürte an seinem Hals ein Kitzeln und sah dann eine große Spinne über seinen Bart krabbeln.
Einen Schrei ausstoßend, sprang der Mönch auf die Beine und wischte die Spinne weg. Sie flog in hohem Bogen in den Sumpf. Ketil schüttelte sich vor Ekel. Er hasste diese Tiere wie kaum etwas anderes auf dieser Welt.
Dabei sah er wahrlich nicht aus wie jemand, der vor irgendetwas Angst haben musste. Er war ein kahlköpfiger Riese, der sogar groß gewachsene Männer noch um einen Kopf überragte. Aber es war nicht nur seine Körpergröße, auch Gesicht, Nase, Lippen, Stirn, ebenso wie Füße und Hände – eigentlich alles an ihm wirkte so gewaltig, dass jeder, der ihm begegnete, zunächst einmal sprachlos war vor Staunen.
Als er sich nach dem Beutel mit den heiligen Schriften bückte, bekam er den nächsten Schreck. Seine Kutte, darunter die kurze Leinenhose, die
Bruche
, und die Schuhe waren schwarz vom Morast. Er sah aus wie ein Waldgeist. So verdreckt würde man ihn kaum an Bord eines Schiffes lassen.
Aber wo im Wald sollte er sich und seine Kleider waschen?
Darüber würde er sich später Gedanken machen. Jetzt musste er erst einmal den Wildpfad wiederfinden, den er vorhin verlassen hatte, um sich im Unterholz zu erleichtern.
Während er einen weiten Bogen um die sumpfige Stelle machte, überlegte er, ob er in die Richtung zurückkehren sollte, aus der er gekommen war. Nach zwei oder drei Meilen würde er wieder auf den Waldweg treffen. Dort war ihm an diesem Morgen ein Händler begegnet, der ihm den Wildpfad als Abkürzung zum Treenehafen empfohlen hatte.
Ketil schaute in den Himmel. Der Stand der Sonne verriet ihm, dass es um die Mittagszeit war. Wenn er zurücklief, würde er einen ganzen Tag verlieren und dann vielleicht eines der Schiffe verpassen, mit dem er nach Colonia fahren wollte. Er musste dem Erzbischof von den Gräueltaten berichten, die Graf Thankmar und Bischof Poppo hier im Namen des Herrn begingen – und zwar so schnell wie möglich. Also entschloss er sich, den Worten des Händlers zu vertrauen und dem Wildpfad weiter durch den sumpfigen Wald zu folgen.
So ging der Mönch seines Weges, bis sich der Pfad nach einer halben Meile gabelte.
Es war zum Verzweifeln! Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob der Händler ihm von der Gabelung erzählt hatte. Ketil entschied sich für den Pfad zu seiner Linken, doch bald darauf kreuzte der Weg einen
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