Das Lied des Todes
anderen.
Nun hatte Ketil die Orientierung vollends verloren. Aber alles Lamentieren half nichts. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, und nachdem er gut eine Meile weitergegangen war, tat sich vor ihm eine Lichtung auf, die ihm so schön erschien wie das Paradies auf Erden.
Die mit kniehohen, saftig grünen Gräsern und Farnkraut bewachsene Wiese war gesäumt von Buchen, Birken und Nadelbäumen. In den Strahlen der untergehenden Sonne tanzten Mücken und Libellen. Stare und Amseln zwitscherten Lieder – und mitten auf der Lichtung, versteckt hinter Büschen, entdeckte Ketil einen Teich.
Dorthin lief er, zog sich die vom Schlamm verkrusteten Kleider vom Leib, wusch sie im Wasser aus und hängte sie zum Trocknen über die Büsche. Dann stieg er selbst in den Teich. Nachdem er ausgiebig gebadet hatte, legte er sich am Ufer ins Gras, um seine Haut von den noch wärmenden Sonnenstrahlen trocknen zu lassen.
Ich muss ausruhen, dachte er, nur für einen Moment, nur für einen kurzen …
Dann schlief er ein und dämmerte hinüber in den häufig wiederkehrenden Traum von der alten Heimat, der großen Insel im Nordmeer, die man Island nannte. Im Traum wanderte er mit seinem Vater Kormak durch die Berge. Sie wollten auf den Weiden nach dem Vieh schauen. Ketil war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Schon damals überragte er seinen Vater um Haupteslänge. Doch in seinem Traum reichte ihm Kormak kaum bis an die Knie, und der alte Mann schrumpfte immer mehr zusammen, während der junge Ketil versuchte, ihm zu erzählen, was geschehen war: Es sei ein Versehen gewesen; er habe nicht gewollt, dass der andere Junge starb. Der hätte mit dem Streit angefangen, nicht Ketil! Aber so laut Ketil dies seinem Vater auch zurief, der winzige Kormak hörte ihn nicht. Immer höher kamen sie in die Berge. Es wurde eiskalt. Ketil verlor seine Schuhe, lief barfuß durch tiefen Schnee. Er zitterte am ganzen Körper, und als er sich nach seinem Vater umdrehte, war dieser verschwunden. Einsamkeit umhüllte Ketil. Er war völlig allein, in einer glitzernden Welt aus Schnee und Eis. Sein letzter Gedanke war, dass er in der Einsamkeit der Berge erfrieren würde, als Strafe für das, was er getan hatte …
Als er wieder erwachte, dämmerte es. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten Büsche, Gräser und Bäume auf der Lichtung in rötliches Licht.
Noch immer schwebten die Traumbilder vor Ketils innerem Auge, und er dachte daran, was damals wirklich geschehen war und was dazu geführt hatte, dass er seine Heimat verlassen musste. Schon als Junge hatte ihn seine außergewöhnliche Gestalt häufig zum Gespött anderer Jungen gemacht. Bei einer Rauferei hatte Ketil einen anderen Knaben geschubst, woraufhin dieser mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufschlug. Die Verletzung war tödlich. Daraufhin hatte man Ketil Kormakson des Landes verwiesen. Er sei eine Gefahr für alle anderen, sagten die Leute.
Ketil spürte die Kälte, die sich mit schwindendem Licht auf der Lichtung ausbreitete, und erhob sich, um seine Kleider wieder anzuziehen.
Als sein Blick über einen Busch hinweg auf die Lichtung fiel, sah er plötzlich jemanden mit dem Rücken zu ihm zwischen den Bäumen stehen. Es war ein schlanker, junger Mann. Er hatte blondes Haar, das zum Zopf gebunden bis über seine Schultern reichte. Mit seiner Fellkleidung und der sonnenbraunen Haut sah er aus wie ein Waldmensch. In der rechten Hand hielt er eine Schleuder, die er jetzt mit einem Stein bestückte. Dann visierte er einen Hasen an, der gut vierzig Schritt entfernt auf einem umgekippten Baum saß und sein Fell putzte.
Neugier packte Ketil. Wollte der Blondzopf etwa auf diese Entfernung den Hasen treffen?
Früher hatte Ketil Männer gekannt, die ausgezeichnet mit Steinschleudern umgehen konnten. Aber selbst die Besten von ihnen wären nicht in der Lage gewesen, ein so kleines Tier über eine Distanz von mehr als vierzig Schritt zu erlegen; es sei denn, mit einem Glückstreffer.
Verborgen hinter dem Busch, schaute Ketil zu, wie der junge Mann mit der Schleuder Schwung holte, indem er sie um sein Handgelenk kreisen ließ. Immer schneller rotierte die Schleuder, immer ausholender wurden die Bewegungen. Der Hase stellte die Ohren auf, als spüre er die Gefahr. Er wollte gerade fliehen, als der junge Mann einen schnellen Schritt nach vorn machte und den Stein fliegen ließ. Der Stein traf den Hasen am Kopf, und er kippte vom Baumstamm.
Ketil staunte. Ein solches Kunststück hatte er niemals
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