Das Lied des Todes
toter Weißfisch steckte.
Doch heute half alle Magie nichts.
«Nichts dran!», hörte Aki seine Schwester ernüchtert sagen, während sie den Köder einholte.
«Wirf die Angel wieder rein», forderte Aki sie auf. «Bestimmt hängt morgen etwas dran.»
Asny schüttelte den Kopf. «Wir haben alle Hechte rausgefangen.»
Das war durchaus möglich. Als sie nach dem letzten Winter in diese Gegend gekommen waren, hatten sie im Waldbach häufig große Hechte an den Angeln gehabt. Einige waren zwei, drei Fuß oder noch länger gewesen. Aber in den vergangenen Wochen hatten kaum noch Fische angebissen und wenn, dann nur kleine.
«Mach dir keine Gedanken», sagte Aki aufmunternd. «Sobald der nächste Winter vorüber ist, suchen wir uns einfach einen neuen Lagerplatz und dann …»
«Und was dann?», unterbrach Asny ihn mit ungewohnter Schärfe. «Bauen wir dann
einfach
ein neues Versteck, in dem wir so lange bleiben, bis wieder alle Fische weggefangen sind? Schlafen wir dann immer noch jeden Abend mit der Angst ein, dass der Graf uns entdecken könnte? Wie lange sollen wir noch so weitermachen? Hast du überhaupt bemerkt, dass Gyda kaum noch etwas isst? Hast du sie dir in den letzten Tagen mal angeschaut? Sie besteht nur noch aus Haut und Knochen. Dagegen ist dein Hase wirklich ein fetter Brocken!»
Aufgebracht warf Asny die Haselstange mitsamt der Angel auf den Boden und trat so lange darauf herum, bis der Ast zerbrochen und die Schnur sich um ihre Beine und Füße gewickelt hatte.
Fassungslos stand Aki daneben. Es tat ihm im Herzen weh, seine Schwester so verzweifelt zu sehen. Er kniete vor ihr nieder und zerschnitt mit seinem Messer die Sehne, in der sie sich verfangen hatte.
«Es gibt hier keine Fische mehr!», hörte er sie schluchzen. «Wir haben doch kaum Vorräte angelegt, und bald kommt der Winter … und dann werden wir alle sterben …»
Nachdem Aki sie befreit hatte, steckte er das Messer ein, erhob sich und nahm seine Schwester in die Arme. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und weinte leise, bis sie allmählich ruhiger wurde.
Aki zerbrach sich unterdessen den Kopf, was er sagen oder tun konnte, um sie zu trösten. Aber ihm fiel nichts ein. Schließlich hatte sie nicht unrecht. Vor einigen Tagen hatte Velva die Götter nach dem nächsten Winter befragt. Was dabei herauskam, stimmte sie alles andere als hoffnungsvoll: Bald würde es sehr kalt werden und der Schnee so hoch liegen, dass selbst ausgewachsene Männer darin stecken bleiben konnten. Es war viele Jahre her, dass Aki einmal einen solchen Winter erlebt hatte, der mit klirrendem Frost und ungeheuren Schneemassen das Leben in Haithabu zum Erliegen gebracht hatte. Aber damals lebten Velva und die Zwillinge in ihrem Grubenhaus – mit einem festen Dach, einer wärmenden Feuerstelle und einer gefüllten Vorratskammer. Davon konnten sie jetzt nur träumen und hoffen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommen würde, wie die Götter prophezeiten.
Aber was auch immer geschehen wird, ich werde niemals aufgeben, schwor sich Aki und drückte seine Schwester fester an sich. Nach einer Weile löste sie sich von ihm, trocknete ihre Augen und betrachtete die zertretene Angel.
«Wir bauen morgen eine neue», sagte Aki.
Er reichte ihr eine Hand. Sie mussten zurück zur Höhle. Bald würde es dunkel sein.
Da ließ ihn ein leises Geräusch aufhorchen. Ein knackendes Geräusch, wie das eines brechenden Astes. Er drehte sich um. Die Jahre im Wald hatten seine Sinne geschärft. Aber das Knacken war zu weit entfernt gewesen. Er konnte nicht sagen, ob es von einem Tier oder einem Menschen stammte. Angestrengt lauschte er in den Wald und hörte den Abendwind in den Blättern rauschen.
Aki lief hinter Asny her, die die Führung durch das Dickicht übernommen hatte. Er hatte einen Stein in die Schleuder gelegt für den Fall, dass ihnen jemand folgte. Geduckt huschten sie an Sümpfen vorbei, krochen durch Gestrüpp und überquerten schließlich einen kleinen Wasserlauf, hinter dem sie sofort wieder ins Unterholz eintauchten. Ab und an hielten sie inne und achteten auf verdächtige Geräusche. Aber es blieb still.
Nach einer Weile erreichten sie im letzten Tageslicht ihr Versteck am Rande einer kleinen Lichtung. Die Höhle befand sich in einem Hohlraum zwischen mehreren großen Steinen. Die Spalten zwischen den Steinen hatten sie mit Lehm und getrocknetem Gras abgedichtet und darüber ein Dach aus Ästen, Farnkraut und Laub gesetzt. Im hinteren
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