Das Lied des Todes
gekommen …
«Ich … ich habe keinen Sohn mehr!», sagte Sigurd zum dritten Mal und leerte den Becher in einem Zug.
Seine Augen schimmerten glasig; es war nicht zu erkennen, ob das am Wein lag oder ob es Tränen waren.
Er vermied es, jemanden anzuschauen.
«… habe keinen Sohn mehr», sagte er wieder.
Die anderen Männer warfen Hakon verstohlene Blicke zu. Sigurd hatte seinen eigenen Sohn verstoßen – und somit die denkbar schlimmste aller Strafen verhängt. Hakon würde die Stadt verlassen müssen und seinen Sohn Eirik nicht mehr sehen, zumindest so lange, bis Eirik groß genug war, um von sich aus nach Hakon zu suchen. Wenn sich Eirik dann überhaupt noch an seinen Vater erinnerte.
Wein tropfte aus Sigurds Mundwinkeln, als er einen weiteren Becher leerte.
Bergljot trat vor ihn. «Du bist betrunken!»
«Das geht dich nichts an», brummte Sigurd. «Geh weg, Weib. Ich will dich nicht sehen … will niemanden mehr sehen.»
Doch Bergljot wich nicht von der Stelle. «Du kannst deinen Sohn nicht verstoßen.»
«Doch, das kann ich, und das habe ich getan.»
«Nein!»
«Halt endlich deinen Mund, Weib.»
Bergljot machte einen weiteren Schritt nach vorn. Sie berührte Sigurd jetzt beinahe.
«Hakon ist auch
mein
Sohn!», sagte sie.
Sigurds Finger krallten sich um den Becher, bis seine Knöchel weiß hervortraten.
Anerkennendes Gemurmel über Bergljots Mut erhob sich unter den anderen Männern.
Hakon legte seine Hand auf Bergljots Arm, um sie zurückzuziehen.
«Ich werde tun, was er will», sagte er.
Doch sie riss sich von Hakon los, holte aus und schlug Sigurd den Becher aus der Hand. Der Wein ergoss sich über seine graue Tunika.
«Wenn mein Sohn gehen muss», schrie Bergljot ihrem Mann ins Gesicht, «dann werde
ich
ihn begleiten – und Eirik ebenfalls.»
Sigurd schaute auf seine leere Hand, dann auf die Weinflecken und schließlich auf seine Frau, als wäre sie eine Erscheinung aus einem bösen Traum.
«Ich bin der Jarl», stammelte er. «Ich habe das Sagen, ich …»
Bergljots Augen verengten sich zu Schlitzen. «Ja, du bist der Jarl. Und als Jarl hättest du selbst für den Schutz deiner Stadt sorgen müssen. Du hast zu viele Männer abgezogen, weil du den Hals nicht vollkriegen kannst. Dass Hladir ungeschützt war, war deine Schuld, ganz allein deine Schuld …»
Da wuchtete sich Sigurd aus seinem Stuhl hoch und stieß Bergljot von sich fort. Mit drohender Geste hob er die Faust.
«Schweig!», rief er. «Niemand redet so mit mir. Niemand!»
Doch Bergljots Mut wich nicht. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute ihrem Mann in die Augen.
«Was willst du tun?», fragte sie angriffslustig. «Willst du mich schlagen?»
Sigurds Faust zitterte.
«Du wirst das Letzte verlieren, das dir noch geblieben ist», sagte Bergljot. «Dein Gold und Silber, deine Pelze und Felle hat der Graf dir genommen. Zwei deiner Söhne mussten sterben, weil du sie in den Kampf geführt hast, und nun verstößt du deinen letzten Sohn, und ich und dein Enkel werden mit ihm gehen.»
Ein Raunen erhob sich unter den Männern, als sie Sigurd vor die Füße spuckte. So etwas war in Hladir noch nicht vorgekommen.
Bergljot drehte sich zu Hakon um. «Hol Eirik!»
Hakon war außerstande, sich zu bewegen. Nie zuvor hatte er seine Mutter so aufgebracht erlebt, und er zweifelte nicht daran, dass es ihr ernst war.
Als Bergljot Hakon zögern sah, lief sie selbst in die Kammer, in der die Amme Hildirid auf Eirik aufpasste. Mit dem Knaben im Arm kehrte Bergljot zurück, gefolgt von einer völlig überraschten Hildirid.
Im Vorbeigehen griff Bergljot nach Hakons Arm und zog ihn durch den Raum an den verdutzten Männern vorbei. Als sie die Tür fast erreicht hatten, hörten sie Sigurds Stimme. Sie klang brüchig, und es war deutlich zu merken, wie schwer es ihm fiel, das zu sagen, was er nun sagte.
«Warte, Frau! Ich … ich will, dass du bleibst.»
An der Tür drehten sich Hakon, Bergljot und Hildirid um.
«Bleib …», stieß Sigurd aus. Dieses Mal waren es ganz sicher Tränen, die in seinen Augen schimmerten.
«Wirst du das Urteil zurücknehmen?», fragte Bergljot.
Sigurd senkte den Blick. «Das kann ich nicht. Hakon hat eine schwere Schuld auf sich geladen. Aber … ich werde ihm noch eine Gelegenheit geben.»
Hakon konnte im ersten Moment nicht glauben, was sein Vater da von sich gab. Er hatte noch niemals erlebt, dass Sigurd Schwäche zeigte.
«Hakon muss Hladir verlassen – für fünf Jahre. Diese Frist
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