Das Lied des Todes
zuvor gesehen.
Der Blondzopf rannte zu seiner Beute, gab dem Hasen den Gnadenstoß, indem er ihm mit einem Handkantenschlag das Genick brach, und ging dann, fröhlich pfeifend, mit dem toten Tier in der Hand über die Lichtung davon.
Schnell zog sich Ketil an, um dem jungen Mann zu folgen und ihn nach einem Weg aus dem Wald zu fragen. Doch als er wieder über das Gebüsch schaute, verschwand der junge Mann gerade zwischen den Bäumen.
Ketil schluckte einen Fluch hinunter. Dann lief er dem Waldmann nach.
19.
Aki fand seine Schwester am Ufer des Waldbachs, wo sie die Hechtfallen kontrollierte. Als er sich bemerkbar machte, warf sie einen beiläufigen Blick auf den Hasen und wandte sich wieder ab.
«Der hat ja kaum Fleisch auf den Knochen», murmelte sie.
«Kaum Fleisch?», rief Aki mit gespielter Entrüstung. «Das ist der größte Hase der ganzen Mark! Glaub mir, ich musste all meine Kraft aufbringen, um ihn niederzuringen.»
Natürlich hatte Asny recht, das Tier war wirklich mager. Aber Aki war nicht auf der Suche nach Beute einen halben Tag lang durch den Wald gelaufen, nur um sich jetzt das Jagdglück schlechtreden zu lassen. Trotzdem war er nicht böse auf Asny, vielmehr tat es ihm leid, dass sie so traurig war.
Um sie aufzuheitern, stellte er sich demonstrativ neben sie, winkelte den rechten Arm und spannte unter dem Hemd seine Muskeln an.
«Sieh her, Asny», sagte er, «sieh, wie stark ich bin. Ich nehme es mit jedem Hasen auf!»
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihre Lippen. «Na ja, für eine Mahlzeit wird er vielleicht ausreichen.»
Doch das Lächeln blieb nicht lange. Gleich darauf legte sich wieder ein Schatten über ihr Gesicht. In dem Ausdruck lagen all die Sorgen, die der tägliche Kampf ums Überleben mit sich brachte.
Seit vier Jahren lebten die Zwillinge mittlerweile mit ihrer Mutter Velva und der kleinen Schwester Gyda in den Wäldern der Mark. Es waren harte Jahre, vor allem in den Wintermonaten, wenn die Kälte unter die Felle kroch und in die Zehen biss wie eine Schlange. Dennoch hatten sie bislang allen Widrigkeiten getrotzt: Sie hatten Krankheiten überwunden, gehungert, hatten Aas, Flechten und Baumrinde gegessen; sie waren verlaust und abgemagert.
Aber sie lebten. Lebten noch.
Aus Asny war in den Jahren eine Frau geworden. Eine sehr schöne Frau, wie Aki fand, und er sagte es ihr häufig. Schließlich war er der einzige Mann der Familie und sah es als seine Aufgabe an, die anderen aufzubauen.
Auch Aki war erwachsen geworden. Sechzehn Jahre war er jetzt alt. Er hatte jagen und kochen gelernt. Er wusste, wie man Fleisch durch Räuchern oder Trocknen für die Wintervorräte haltbar machte. Er konnte essbare von giftigen Pilzen und heilende Kräuter von nutzlosen unterscheiden. Sogar das Nähen von Kleidungsstücken aus Tierhäuten hatte er gelernt. Allerdings erledigten meist Asny oder Velva diese Arbeiten.
Die Verbannten hatten sich mit dem Leben im Wald arrangiert, so gut es eben ging.
Was sie jedoch am meisten fürchteten, waren nicht Hunger, Krankheiten oder Kälte. Es war der Graf, der sich mit dem Richterspruch des Dänenkönigs nicht zufriedengegeben hatte. Nur wenige Tage, nachdem Velva und die Kinder Haithabu verlassen hatten, beobachtete Aki auf einem seiner Jagdzüge mehrere Blutmäntel, die die Wälder mit der Unterstützung von dänischen Spähern durchstreiften. Aus einem Versteck heraus konnte Aki hören, dass der Graf eine hohe Belohnung auf die Ergreifung der Seherin ausgesetzt hatte.
Einige Male hatten die Blutmäntel sie in den vergangenen Jahren beinahe entdeckt. Doch bislang hatten sie immer Glück gehabt oder sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht, sodass die Soldaten des Grafen ihre wechselnden Verstecke nicht fanden. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis das Glück sie verließ. Aki wusste nur zu gut, dass sich der Kreis um sie immer enger zog und dass sie früher oder später den Blutmänteln in die Hände fallen würden.
Diese Sorgen und Ängste sah Aki in Asnys Gesicht, während sie am Ufer neben dem Haselstock niederkniete, den sie hier am Morgen in den Boden gesteckt hatte. Es war kein Zufall, dass Asny, die fürs Fischen zuständig war, für die Hechtfallen Haselholz verwendete. Velva hatte erklärt, dass diese Sträucher magische Kräfte besaßen – und diese konnte man beim Fischen gut gebrauchen. Am Stock war eine Schnur aus Tierdärmen befestigt. Als Haken diente ein beidseitig angespitztes Aststückchen, auf dem ein fingerlanger
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