Das Lied des Todes
«Sie ist ganz kalt, Mutter. Mutter? Mutter, sag doch: Was ist mit ihr?»
Velva schwieg.
Da streckte Asny erneut die Hand aus und berührte Gydas Wangen. «So kalt …», flüsterte sie.
Aki kroch zu ihnen. Gyda schien zu schlafen, ganz friedlich sah sie aus. Aber Aki wusste, dass der Anblick trog, und er spürte, wie sich sein Magen umdrehte.
«Mutter, du bist eine Zauberin», rief Asny. «Mach Gyda wieder lebendig!»
Velvas Augen blitzten. Sie forderte die Zwillinge auf, ruhig zu sein und aufs Lager zu kommen. Dann rückte sie ein Stück zur Seite, damit die Zwillinge sich links und rechts neben Gyda niederlassen konnten.
Aki nahm das Mädchen in den Arm und streichelte ihr Gesicht.
Wie leicht sie ist, dachte er. Fast so leicht wie damals, als sie geboren wurde.
Die Zwillinge waren an dem Tag mit der hochschwangeren Velva im Grubenhaus gewesen. Mutter hatte gemeint, dass sie keine fremde Hilfe brauche. Sie habe ja auch Aki und Asny allein zur Welt gebracht. Doch dieses Mal ging irgendetwas schief. Sosehr Velva sich auch anstrengte, Gyda wollte nicht herauskommen. Schließlich holten die Kinder eine Nachbarin, aber auch mit deren Unterstützung hatte es eine Ewigkeit gedauert, bis das kleine Wesen endlich zum Vorschein kam. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals des Neugeborenen gewickelt, und der kleine Körper und das Köpfchen waren blau angelaufen. Aki glaubte, das Kind sei eine Totgeburt. Doch der Nachbarin, die mindestens ein Dutzend Kinder geboren hatte, gelang es gerade noch rechtzeitig, die Nabelschnur durchzuschneiden und Gyda das Leben zu retten.
Das Glücksgefühl, das Aki damals verspürte, als er die Kleine endlich schreien hörte, hatte er niemals vergessen. Ebenso wenig würde er die lähmende Trauer vergessen können, die jetzt von ihm Besitz ergriff.
Damals hatten die Götter entschieden, dass das Neugeborene leben sollte. Nun hatten sie Gyda zu sich geholt.
Velva berührte mit ihren Händen die Gesichter der Zwillinge und sagte: «Die Götter haben eure Schwester gerufen. Sie werden sie bei sich aufnehmen, damit es ihr besser ergeht. Besser als unter uns Menschen.»
«Aber wir haben uns doch immer um Gyda gekümmert», stieß Asny aus.
Am liebsten hätte Aki ihr beigepflichtet und das Recht der Götter in Frage gestellt, über Leben und Tod zu entscheiden. Aber er war so erschüttert, dass kein einziger Laut über seine Lippen kam.
«Wir waren immer für sie da», rief Asny, fast schon kreischend. «Mutter! Sie soll nicht zu den Göttern gehen, jetzt noch nicht. Wir haben Gyda lieb.»
Velva zog ihre vernarbten Hände zurück.
«Ja, das haben wir», sagte sie bestimmt. «Das tun wir in diesem Augenblick, und das werden wir immer tun.»
Dann kroch sie vom Lager zum Höhleneingang. Hinter den Brombeersträuchern schimmerte das Licht des jungen Morgens. Am Eingang drehte sie sich noch einmal um und forderte die Zwillinge auf, Gyda nach draußen zu bringen.
Ein herrlicher Spätsommertag kündigte sich an.
Über den Baumwipfeln erhob sich am wolkenlosen Himmel die Sonne und schickte ihre Strahlen durch das Blätterdach. Die Luft war erfüllt vom fröhlichen Gezwitscher der Vögel und dem Duft nach taufrischem Moos.
Velva ging bis zum Rand der Lichtung, etwa zwanzig Schritt von der Höhle entfernt.
Dort stand eine mächtige Eiche, deren Äste so gewachsen waren, dass sie aussahen wie die ausgestreckten Arme eines Riesen. Daher nannten sie den Baum
eiktroll
, Eichentroll. Während Aki mit Gyda im Arm stehen blieb, machte sich Velva daran, Farnkraut und Sträucher auszureißen. Asny stand weinend bei Aki. Nach einigem Zögern wischte sie sich die Tränen aus den Augen und begann, Velva zu helfen. Es dauerte nicht lange, bis sie das alte Laub entfernt und eine kleine Fläche freigelegt hatten, auf der Aki Gyda ablegte.
Dann nahm Velva ihren Schmuck ab und behängte das Mädchen mit Ketten aus bunt bemalten Tierknochen, kleinen Steinen und Tonkugeln. Auch Asny hängte ihrer Schwester eine Kette mit dem Wolfszahn um, den sie vor zwei Jahren im Wald gefunden und seither aufbewahrt hatte. Aki besaß keinen Schmuck, daher gab er Gyda seine Schleuder mit auf die Reise ins Götterreich Asgard.
Sie kämmten das Mädchen und stellten sich um sie herum auf. Velva begann das Lied zu singen, das sie ihnen früher unzählige Male vorgesungen hatte.
«Zum Richterstuhl gingen die Rater alle, heilige Götter, und hielten Rat: Für Nacht und Neumond wählten sie Namen, benannten Morgen und Mittag
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