Das Lied des Todes
Bereich hatten sie in die Wand ein Loch als Fluchtweg eingelassen. Es war so schmal, dass sie sich gerade hindurchzwängen konnten, wenn es nötig werden würde. Ihre Behausung war von außen gut getarnt, und man musste schon sehr dicht herantreten, um zu erkennen, dass es sich nicht um eine natürliche Erhebung handelte.
Nachdem Aki und Asny ein letztes Mal auf Geräusche gelauscht, aber nichts gehört hatten, krochen sie unter den Dornen des Brombeergestrüpps hindurch, hinter dem der Höhleneingang verborgen war.
Im Innern der Höhle war es nahezu dunkel. Nur ein schwacher Lichtschimmer drang durch den Rauchabzug im Dach. Das Feuerholz, das Velva für diese Nacht in der Mitte der Höhle aufgeschichtet hatte, würden sie wie immer erst bei Dunkelheit entzünden, damit der Rauch sie nicht verriet.
Als die Zwillinge hereinkamen, hob ihre Mutter kurz den Kopf, dann wandte sie sich wieder der kleinen Gyda zu. Die beiden saßen mit den Rücken an die Wand gelehnt auf dem mit Reisig und Schilf gepolsterten Schlaflager, das mit Fellen überspannt war.
Die Zwillinge hatten sich vorgenommen, Velva nichts von dem Geräusch am Bach zu erzählen. Sie wollten sie nicht unnötig beunruhigen. Aber natürlich wollte Aki seiner Mutter den Hasen zeigen, um sie aufzuheitern. Als er jedoch Velvas von Trauer erfüllten Gesichtsausdruck sah, blieben ihm die Worte im Halse stecken.
Die Augen voll schimmernder Tränen, streichelte Velva mit ihrer von Brandnarben überzogenen Hand Gydas Wangen. Das Mädchen bewegte sich nicht, seine Augen waren geschlossen. Gyda war inzwischen acht Jahre alt. Sprechen hatte sie noch immer nicht gelernt. Auch das Gehen fiel ihr nach wie vor schwer; sie bewegte sich kriechend und krabbelnd vorwärts. Daher verbrachte Gyda die meiste Zeit in der Höhle. Nur hin und wieder, wenn das Wetter besonders schön war, wurde sie von den anderen an die frische Luft gebracht, damit sie den Sonnenschein und den Vogelgesang genießen konnte.
Asny kroch zum Lager und fragte besorgt, ob Gyda etwas fehle. Aber Velva schüttelte nur den Kopf.
Nachdem Aki den Hasen bei der Feuerstelle abgelegt hatte, setzte auch er sich zu den anderen und betrachtete Gyda. Offenbar hatte er seine kleine Schwester tatsächlich länger nicht mehr genau angeschaut. Gyda war nie sehr kräftig gewesen, aber nun wirkte sie zerbrechlich wie trockenes Schilfgras. Schwach hob und senkte sich ihre Brust unter den Atemzügen.
Nach einer Weile begab sich Asny zur Feuerstelle, zündete das vorbereitete Holz an und begann dann, dem Hasen das Fell abzuziehen. Anschließend nahm sie das Tier aus, säuberte es in einer mit Wasser gefüllten Tonschale vom Blut und spießte es auf einen Stock. Bald darauf garte der Hase über der Glut. Der angenehme Duft nach gebratenem Fleisch erfüllte die Höhle.
Velva hatte noch immer kein Wort von sich gegeben. Daher schwiegen auch Aki und Asny, während sie sich um das Essen kümmerten. Als das Fleisch knusprig braun geworden war, löste Aki eine Keule und hielt sie seiner Mutter hin. Doch sie nahm sie nicht an.
«Du musst etwas essen, Mutter», flüsterte Aki.
«Heute nicht», erwiderte sie.
Und dann noch einmal: «Heute nicht.»
Aki kauerte sich beim Feuer neben Asny.
«Was ist mit den beiden?», flüsterte er, wobei er den Blick nicht von Velva und Gyda nahm. «So habe ich Mutter noch nie erlebt. Irgendetwas stimmt nicht mit Gyda.»
Asny hielt ein Stück Fleisch in der Hand, ohne davon zu essen.
«Morgen geht es ihnen bestimmt wieder besser», sagte sie leise. «Ja, ganz bestimmt!»
Aki schaute seine Zwillingsschwester an und sah, dass sie wieder weinte.
Was ist hier nur los?, dachte er und fühlte Panik in sich aufsteigen. Warum sagte ihm niemand, was hier verdammt noch mal los war?
Asny legte ihr Fleisch unangetastet auf einen Stein.
«Wir sollten jetzt schlafen», sagte sie. «Morgen wird es besser, bestimmt wird es morgen …»
Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Am ganzen Körper zitternd, kroch sie zum Lager und legte sich zu Velva und Gyda.
Aki blieb mit einer schrecklichen Vorahnung allein am Feuer sitzen. Die Hasenkeule in seiner Hand wurde kalt.
Als Aki am nächsten Morgen mit steifen Gliedern neben der Feuerstelle erwachte und Velva mit Gyda im Arm noch immer an der Wand sitzen sah, wusste er sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war.
Asny hockte vor dem Schlaflager und starrte die beiden mit weit aufgerissenen Augen an.
«Ich habe … Gyda angefasst», hörte Aki Asny sagen.
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