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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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blieben stehen und drehten sich um. Beide starrten den Grafen an.
    «Das Pergament!», stieß Sigurd aus. «Ihr seid gekommen, nur um das Pergament zu holen?»
    Thankmar erstarrte. Der Jarl wusste von der Urkunde!
    «Ja, ein Pergament mit Schrift und Siegel», rief er. «Holt es her!»
    Sigurd senkte den Blick. Von dem Stolz, den er vorhin noch zur Schau gestellt hatte, war nichts mehr geblieben.
    «Hakon hat das Pergament irgendwo versteckt …»
    Thankmar ließ abermals seine Fäuste auf die Tischplatte krachen. «Dann durchsucht diese ganze verdammte Stadt, Jarl. Oder wollt Ihr, dass ich das übernehme?»
    Sigurd schüttelte den Kopf. «Es könnte überall sein. Wir werden es nicht finden.»
    Thankmar zog sein Schwert. Oh doch – er würde die Urkunde finden, und wenn es sein musste, auch ohne die Hilfe des alten Narren, dessen Tage gezählt waren.
    «Kommt her», schrie er, «damit ich Euch den Kopf abschlagen und mit der Durchsuchung in Eurem Hals beginnen kann.»
    Plötzlich trat Bergljot vor. Mit der linken Hand hielt sie ihre rechte fest. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und tropfte auf den Boden.
    «Ich glaube, ich weiß, wo Hakon Eure Urkunde versteckt hat.»
    «Wo?», rief Thankmar. «Wo? Wo? Rede, Weib!»
    «Ich führe Euch hin, wenn Ihr schwört, die Stadt und ihre Bewohner zu verschonen.»
    Thankmar hätte dem Weib in diesem Augenblick alles versprochen. Alles!

32.
    Sie erreichten den Tempel über verschlungene Wege.
    Das Götzenhaus war ein mit Rinde gedecktes Gebäude mit Holzwänden. Es stand auf einem Plateau hoch oben in den verschneiten Bergen über Hladir. Auf der einen Seite der ebenen Fläche ragte eine schroffe Felswand auf, zur anderen Seite ging es steil in die Tiefe hinab. Die unberührte Schneedecke auf dem Plateau wies darauf hin, dass seit längerer Zeit niemand mehr beim Tempel gewesen war.
    Thankmar beschlich ein unangenehmes Gefühl, als er sich mit Ernust und einem Dutzend Blutmänteln dem vom Wind umheulten Gebäude näherte. Ernust zog Bergljot an einem Strick, den man ihr in einer Schlinge um den Hals gelegt hatte, hinter sich her. Ihre rechte Hand war mit Stofffetzen verbunden worden, um die Blutung zu stillen. Während des Aufstiegs hatte sie meist geschwiegen und nur den Mund aufgemacht, um den Sachsen den Weg zu weisen.
    Als Thankmar in einiger Entfernung vom Tempel anhielt, schleuderte ihm eine eisige Böe Schneeflocken ins Gesicht. Es war bitterkalt. Nun begann es auch noch zu schneien.
    Aber das war es nicht, was Thankmar beunruhigte. Beim Anblick des heiligen Ortes glaubte er die Macht der heidnischen Götter beinahe körperlich zu spüren.
    Den anderen schien es ebenso zu gehen. Die Soldaten waren eng zusammengerückt. Sie hatten die Hände an die Waffen gelegt, als könnten sie damit irgendetwas gegen die unsichtbaren Kräfte der bösen Geister ausrichten.
    Thankmar riss sich aus der Starre. Er wandte sich an Ernust und sah in dessen bleich gewordenes Gesicht. Der Hauptmann fürchtete sich zwar vor kaum etwas auf dieser Welt, aber nun stand ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Es half nichts, Ernust war der beste seiner Soldaten. Daher schickte Thankmar ihn zusammen mit Bergljot zum Tempel, über dessen Tür ein grinsender, mit einer Schneehaube gekrönter Pferdeschädel hing. Bergljot sollte die Urkunde holen, und dann würden sie schnell wieder verschwinden. Lieber nahm Thankmar den gefährlichen Abstieg bei Dunkelheit in Kauf, als einen Augenblick zu lang an diesem Ort zu verweilen. Die dunklen Mächte, mit denen die Seherin ihn verflucht hatte, schienen hier leibhaftig zu werden.
    Ernust stapfte mit Bergljot im Schlepptau zum Tempel. Vor der Tür versank der Hauptmann knietief in einer Schneewehe. Es dauerte eine Weile, bis er den Schnee mit bloßen Händen beiseitegeschaufelt und die Tür freigelegt hatte, sodass er sie öffnen konnte. Dann verschwand er mit der Frau im Gebäude. Gleichzeitig schien der Wind an Stärke zuzunehmen. Eine Böe ließ Thankmars purpurfarbenen Mantel wallen und fuhr mit eisiger Hand unter seine Kleidung.
    Es dauerte eine Ewigkeit und war fast dunkel geworden, bis Ernust seinen Kopf aus der Tempeltür steckte und die anderen zu sich winkte.
    Thankmar fluchte. Er wollte die Geisterstätte nicht betreten. Aber er hatte keine andere Wahl. Irgendetwas stimmte nicht. Ob die Urkunde doch nicht im Tempel war?
    Zusammen mit den Soldaten ging er zu der schmalen Tür. Nacheinander betraten sie das stockfinstere Gebäude.
    «Wir

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