Das Lied des Todes
unberührten Schnee in Richtung Stadt stapfte.
An der Ruine angekommen, die einmal das Tor gewesen war, erhob sich der Rabe von Hakons Schulter. Der Vogel stieg in den grauen Himmel auf, der sich bald wieder verdunkeln würde. Er flog höher und immer höher, als wolle er zu den Göttern fliegen, um ihnen von den Schrecken auf dieser Welt zu berichten. Erst als er nur noch als ein kleiner schwarzer Punkt auszumachen war, stürzte er wieder hinab, um irgendwo in der Stadt zu verschwinden.
Da gab Pálnir den anderen ein Zeichen, und sie folgten Hakons Spuren im Schnee.
Als Hakon vor den Resten eines kleinen Hauses stehen blieb, begann es wieder zu schneien. Flocken tauten auf seinem Gesicht.
Die Wände des Hauses, das nur wenige Schritt von der Mauer entfernt war, waren niedergebrannt. Verkohltes Holz und mit grauer Asche vermischter Schnee bedeckten den Boden. Zwischen schwarz verfärbten Stützpfählen und Dachbalken waren noch Teile des Bettes zu erkennen, in dem Thorleif, der alte Freund von Hakons Vater, geschlafen hatte.
Das Haus, das kaum mehr als eine Hütte gewesen war, gehörte zu den frühesten Erinnerungen in Hakons Leben, denn Thorleif war auch sein Freund gewesen. In seiner Kindheit hatte er viele Tage bei dem Mann, der als Walfänger gearbeitet hatte, verbracht. Hier hatte Thorleif dem jungen Hakon die Herstellung von Walspeeren mit Widerhaken und das richtige Verknoten von Seilen beigebracht. Hatte ihm von abenteuerlichen Seefahrten auf der Jagd nach riesigen Walen berichtet. Hatte ihm die Geschichten von der Entstehung der Welt durch die Götter erzählt.
In Hakons Erinnerung saß Thorleif immer auf einem alten Schemel. Hakon hockte auf dem Bett und hörte dem Alten gebannt zu, während sich in seiner Vorstellung eine Welt voller Ungeheuer, Götter und heldenhafter Kämpfer auftat.
Nun war das Haus zerstört wie alle anderen in Hladir. Kein Gebäude war von den Flammen verschont geblieben, die in einem Inferno in der Stadt gewütet haben mussten. Hladir war eine Ansammlung von Brandruinen, über die sich der Schnee legte wie ein Leichentuch.
Hakon hörte die sich nähernden Stimmen von Pálnir und den anderen. Ohne sich umzudrehen, riss er seinen Blick und seine Gedanken von Thorleifs zerstörtem Haus und begab sich auf den schweren Gang durch die Stadt.
Damals, vor vier Jahren, als er das letzte Mal heimgekehrt war, hatte es auch zu schneien begonnen. Hakon erinnerte sich an die ausgelassen tobenden Kinder, die ihn mit Schneebällen beworfen hatten. Hladir war eine lebendige Stadt gewesen. Jetzt war sie tot. Das, was hier gewütet hatte, hatte offenbar nicht einmal Leichen zurückgelassen. Hakon sah nirgendwo Menschen, nur hin und wieder Tiere: gefrorene Kadaver erschlagener Hunde und Körperteile geschlachteter Rinder, Ziegen, Schweine und Pferde.
Je tiefer Hakon in die Stadt eindrang, desto mehr lähmte ihn die Angst vor dem, was ihn auf dem Jarlshof erwarten würde. Was war mit seinen Eltern und Eirik geschehen?
Hakon zwang sich weiterzugehen, setzte Fuß vor Fuß, kam Schritt um Schritt dem Hof näher.
Unter seinen Stiefeln knirschte der Schnee. Und noch immer waren keine Spuren von menschlichem Leben in dieser Stadt zu sehen. Dieser Geisterstadt.
Der Jarlshof bot den gleichen Anblick wie der Rest Hladirs.
Die Torpfosten waren niedergerissen worden. Das Elchgeweih lag zerbrochen vor der Steinmauer. Dahinter waren die Trümmer der Schuppen, Nebengebäude und des Jarlshauses zu erkennen. Vom Langhaus standen nur noch die Gründungspfähle. Die verkohlten Wände und das Dach waren zu einem wilden Durcheinander aus schwarzen Balken und Brettern zusammengestürzt.
Hakon gab sich einen Ruck und betrat den Hof. Der Rabe empfing ihn mit einem Krächzen. Er saß inmitten der Trümmer des Wohnhauses auf der Spitze eines Pfahls. Und hier sah Hakon zum ersten Mal seit der Ankunft lebendige Tiere. Es waren Möwen, große und kräftige Tiere, deren weißes Gefieder sich von den Brandresten abhob. Dutzende von ihnen tummelten sich keifend und zankend in der Ruine und hackten mit ihren Schnäbeln auf irgendetwas ein.
Einige Möwen erhoben sich kreischend, als Hakon näher kam. Aber nur, um sich gleich darauf wieder herabzustürzen. Als Hakon sah, woran sich die Vögel labten, fühlte er sich, als habe man ihm bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Die Möwen fraßen von den Leichen, die unter den Trümmern begraben worden waren.
Tot! Sie waren alle tot! Sein Sohn, seine Mutter, sein
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