Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
Vom Netzwerk:
brauchen Licht», hörte er Ernust sagen. «Die Alte hat versucht, die Urkunde zu finden. Aber es ist zu dunkel.»
    Man holte zwei Fackeln hervor. Es dauerte einen Moment, bis einer der Soldaten auf dem Boden ein kleines Feuer entfacht hatte, an dem die Fackeln entzündet wurden. Kurz darauf erleuchteten sie einen Raum, der viel größer erschien, als er von außen wirkte. Das Dach des Tempels ruhte auf mehreren Pfählen, die mit Schlangen- und Rankenmustern verziert waren.
    Als Thankmar sich zur hinteren Wand drehte, fuhr er zusammen, als habe man ihm Eiswasser in den Nacken geschüttet.
    Dort standen drei mannshohe, aus Holz geschnitzte Figuren mit fratzenhaften Gesichtern. Die beiden äußeren stellten weibliche Götzen dar, die in der Mitte eine männliche, was an den überdimensionierten Geschlechtsteilen zu erkennen war. Der Gott war mit einem armlangen Phallus ausgestattet, die anderen mit hervorspringenden Brüsten.
    Thankmar berührte seinen Talisman und atmete tief ein.
    Nachdem sich seine Panik gelegt hatte, ließ er sich eine Fackel geben und näherte sich den Götterbildnissen. Ernust und Bergljot folgten ihm.
    «Was sind das für Wesen?», fragte Thankmar.
    Instinktiv dämpfte er seine Stimme, als würden die Geister zum Leben erwachen, wenn sie ihn hörten.
    «In der Mitte steht Thor», antwortete Bergljot.
    Sie deutete mit der linken Hand auf die Figur rechts außen. «Und das ist Thorgerd Hölgabrud, die Schutzgöttin von Hladir. Die andere Göttin ist ihre Schwester Irpa.»
    Von Thor hatte Thankmar natürlich gehört. Der Götze war in den Ländern des Nordens allgegenwärtig. Die anderen Namen waren ihm unbekannt.
    «Sind das Thors Weiber?», fragte er.
    Bergljot schüttelte den Kopf. Thorgerd sei einst die Ehefrau eines alten Königs namens Hölgi gewesen, nach dem das Halogaland im Norden benannt worden war, erklärte sie. Thorgerds Schwester Irpa sei Hölgis Geliebte gewesen. Als der König starb, hätten sich beide Frauen selbst getötet. Dann seien sie mit ihm in einem Grabhügel, dessen untere Schicht aus Gold und Silber bestand, bestattet worden.
    Thankmar empfand die Göttinnen mit ihren aufgerissenen Holzaugen und den wulstigen Lippen als besonders furchteinflößend. Für einen Augenblick kam es ihm vor, als würde er die Stimme der Seherin nicht mehr nur in seinem Innern hören, sondern direkt aus den Mündern von Thorgerd und Irpa.
    Schnell wandte er den Blick ab. Es war nicht gut, an diesem Ort zu sein. Nein, ganz und gar nicht gut.
    «Hol die Urkunde!», fuhr er Bergljot an.
    Zu seiner Verwunderung zuckte sie mit den Schultern und sagte: «Ich weiß nur, dass Hakon damals mit Eurem Pergament zum Tempel gegangen ist, mehr nicht.»
    Thankmar spürte Wut in sich aufsteigen. Er legte die rechte Hand an den Schwertgriff, ließ die Klinge jedoch stecken.
    «Verdammtes Weib!», zischte er. «Wo könnte dein Sohn hier drin die Urkunde versteckt haben?»
    Bergljot senkte den Blick auf ihre verletzte Hand. Dann flüsterte sie den Namen der Göttin Thorgerd. Es dauerte einen Augenblick, bis Thankmar begriff, was sie damit meinte. Als er es verstanden hatte, verlor er jede Vorsicht. Er befahl den Soldaten, die Götzenfigur umzuwerfen.
    Bergljot wandte sich mit Tränen in den Augen ab.
    Ernust zwängte sich in den Freiraum hinter Thorgerd und stemmte sich gegen die Holzfigur. Es dauerte eine Weile, bis sie sich bewegte. Sie wankte immer stärker hin und her und krachte schließlich auf den Boden.
    Thankmar vernahm einen gellenden Schrei. Zunächst glaubte er, es sei Bergljot gewesen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er selbst vor Entsetzen und Schmerzen geschrien hatte. Die Stimme der Seherin regte sich in seinem Innern.
    In Todesangst und rasend vor Wut, riss er einem Soldaten das Beil aus dem Gürtel, stürzte sich auf die Göttin und hieb mit aller Kraft auf ihren Körper ein. Holzspäne stoben auf. Der Tempel wurde von den Geräuschen hämmernder Schläge erfüllt. Wie ein Besessener ließ Thankmar wieder und wieder das Beil auf das Wesen niederfahren, als schlage er auf die Seherin ein. Um sie zu töten. Um den Fluch zu überwinden. Er hasste sie. Musste sie zerstören!
    Er hörte nicht, wie Bergljot schluchzend um Vergebung für ihren Verrat flehte.
    Er hörte nicht, wie der Wind immer heftiger um den Tempel heulte.
    Er hörte nicht, wie Ernust ihm etwas zurief.
    Mit einem letzten Schlag durchtrennte Thankmar Thorgerds Hals. Ihr Kopf löste sich vom Rumpf, rollte über den Boden und blieb

Weitere Kostenlose Bücher