Das Lied des Todes
eines machen!»
«Was muss ich Euch geben, damit Ihr endlich wieder verschwindet?», gab der Jarl zurück.
«Euren Sohn!»
Thankmar spürte, wie Bergljot, deren Handgelenk er immer noch festhielt, zusammenzuckte.
«Meinen Sohn?», sagte Sigurd verdutzt. «Hakon?»
«Ich habe gehört, dass er so heißen soll.»
«Warum?»
«Er hat etwas, das mir gehört.»
Sigurd sackte in seinem Hochstuhl zusammen. Thankmar beobachtete ihn genau, um aus seinen Reaktionen herauszulesen, ob der Jarl etwas von der Urkunde wusste. Aber Sigurds Blick blieb undurchdringlich.
«Wo ist Hakon?», wiederholte Thankmar seine Frage.
«Ich … weiß es nicht.»
«Das war eindeutig die falsche Antwort.»
Thankmar überlegte, ob es sinnvoll war, mit dem starrköpfigen Alten zu verhandeln. Mit Worten würde er hier nicht weiterkommen.
Er schaute Bergljot an, diese kleine und zarte Alte, die auf der anderen Seite des Tisches fest in seinem Griff steckte. Als Thankmar seine Lippen zu einem breiten Grinsen dehnte, schien sich ihre Vorahnung in Gewissheit zu verwandeln. Nackte Angst spiegelte sich auf ihrem Gesicht.
«Bitte nicht», flehte sie.
«Was habt Ihr vor?», rief Sigurd von hinten.
Er reckte den Hals und machte Anstalten, sich aus seinem Hochsitz zu erheben.
Thankmar hatte nur noch Augen für Bergljot. Mit einem Ruck zerrte er sie auf die Tischplatte und zog sie so dicht zu sich heran, dass er ihre Hand vor seinen Mund führen konnte. Er öffnete, noch immer grinsend, die Zähne, legte sie um den Finger, auf dem Wichmanns Ring steckte, und biss kräftig zu. Unter dem Druck brach der Knochen wie ein trockener Zweig. Die Zähne durchtrennten Fleisch und Sehnen. Thankmar riss den Finger von der Hand ab und spuckte ihn mitsamt dem Ring auf den Tisch. Dann stieß er die vor Schmerzen brüllende Bergljot von sich fort. Sie rutschte vom Tisch und fiel auf den Boden.
Mit dem Handrücken wischte sich Thankmar das Blut von den Lippen.
Sigurd lief zu seiner Frau und ging neben ihr auf die Knie. Schallendes Gelächter erhob sich unter den Blutmänteln. Sigurd versuchte, seiner schluchzenden Frau auf die Füße zu helfen. Aber sie krümmte sich vor Schmerzen zusammen.
«Warum habt Ihr das getan?», rief Sigurd aufgebracht.
Thankmar ließ Ernust vorsichtshalber das Schwert ziehen. Der Jarl war zwar unbewaffnet, aber vielleicht versteckte er ein Messer im Stiefel oder unter dem Mantel.
Thankmar stellte seine Frage zum dritten Mal: «Wo ist Euer Sohn? Wenn er mir mein Eigentum zurückgibt, soll der Finger das Einzige bleiben, was Ihr und Eure Familie verliert, Jarl.»
Sigurd schüttelte heftig den Kopf. «Er ist nicht hier. Ich habe ihn fortgeschickt, weil … damit er Lebenserfahrung sammelt. Er darf Nordmoer fünf Jahre lang nicht betreten …»
Die Worte trafen Thankmar wie ein Schlag in den Magen. «Wie lange ist das her?», schrie er.
Der Jarl dachte kurz nach. «Im kommenden Jahr wird er zurückkehren.»
Thankmar sank auf die Bank zurück. Alles in seinem Kopf drehte sich. Er senkte den Blick auf den Span auf seiner Brust und dachte an den schrecklichen Tag, als er die Schatulle ausgegraben und das Holzstück anstelle der Urkunde gefunden hatte. Der Krieger hatte ihm ein Zeichen gegeben, obwohl er wohl kaum damit gerechnet hatte, dass Thankmar dafür Hladir angreifen würde.
Er konnte unmöglich ein ganzes Jahr auf den Bastard warten. Er brauchte die Urkunde, damit er im Frühjahr seinen Anspruch auf den Thron vor Evurhard und den anderen Aufständischen beweisen konnte. Davon hing alles ab, und dafür hatte Thankmar ein Vermögen ausgegeben, um Schiffe und Mannschaft zu kaufen und in den Norden zu fahren.
Während er seinen Kopf in die Hände stützte und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er tief in seinem Innersten die Stimme der Seherin. Aber sie sang nicht, sie lachte. Sie lachte ihn aus.
Aber er ließ sich nicht auslachen!
Die Urkunde war hier. Irgendwo hier in diesem verdammten, eiskalten Land. Warum Thankmar sich dessen so sicher war, konnte er nicht sagen, aber er spürte es.
Er sprang von der Bank auf, hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch und brüllte: «Euer Sohn hat mir eine Urkunde gestohlen, Jarl Sigurd! Wenn Ihr mir das Schriftstück nicht aushändigt, werde ich Eurer Frau erst die Finger, dann die Arme und dann den Kopf abschneiden – und dann lasse ich diese ganze Stadt niederbrennen. Wo ist die Urkunde?»
Sigurd und Bergljot, die sich einige Schritte vom Tisch entfernt hatten,
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