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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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mit dem fratzenhaften Gesicht nach oben liegen. Thankmar war überzeugt, dass ihn die aufgerissenen Augen mit demselben Ausdruck anstarrten wie damals die Seherin auf der Brücke.
    Sein Herz raste, als er das Beil sinken ließ.
    Erst jetzt vernahm er Ernusts Stimme. «Herr! Das müsst Ihr Euch anschauen!»
    Thankmar ging zu ihm und sah, was der Hauptmann gemeint hatte. Im Sockel der Götzenfigur klaffte ein Loch. Thankmar kniete davor nieder, schob seine Hand hinein und tastete das Innere ab. Als sein Arm bis zum Ellenbogen darin verschwunden war, stieß er auf etwas, das sich wie mit Wachs getränkter Stoff anfühlte. Er zog es heraus. Im Schein einer Fackel wickelte er das Tuch auseinander. Als er sah, was darin war, wusste er, dass ihn nichts und niemand mehr würde aufhalten können.

33.
    Der Wellenspalter glitt in das Hafenbecken von Hladir.
    In den ausgeschlagenen Riemenpforten ächzten die Ruder, und unter jeder Bewegung des Schiffes knarzte der Mast wie ein morscher Baum im Wind. Das Segel hatte man bereits eingeholt. Es war zerschlissen und an den Rändern ausgefranst. Eine weitere Fahrt würde der Wellenspalter nicht überstehen. Niemand an Bord zweifelte, dass dies seine letzte Reise gewesen war.
    Und seine letzte Reise wurde eine Fahrt in den Tod.
    Wie versteinert stand Hakon mit dem Raben auf der Schulter auf seinem angestammten Platz am Vordersteven. Fassungslos starrte er auf das, was einmal seine Stadt gewesen war. Hladir, das große Handelszentrum im Norden, in dessen Hafen Schiffe aus aller Welt anlegten. Es war eine Stadt der Händler, der Handwerker, der Fischer und Walfänger. Eine Stadt der stolzen Krieger. Das alles war nicht mehr. Das alles war zerstört. War nur noch Schutt und Asche.
    Hakon war zu spät gekommen.
    Dabei hatte die Mannschaft noch einmal alles aus dem Wellenspalter herausgeholt. Nachdem der Rabe Pálnir und seine Leute zu dem Gehöft geführt hatte, hatten sie Hakon und die anderen beiden Seeräuber befreit. Hakon hatte den schrecklichen Verdacht, dass der Graf auf dem Weg nach Norden war – nach Hladir! Es gelang ihm, Pálnir, der ihm noch etwas schuldete, zu der Fahrt nach Norden zu bewegen, anstatt nach Südosten. Pálnir hatte nicht gezögert. In Jumne würde sowieso nur sein verärgerter Vater auf ihn warten. Auf dem äußeren Seeweg, der über das offene Meer jenseits der dem Festland vorgelagerten Inseln und Schären führte, segelten sie zu den Ländern des Nordens. Das Schiff trotzte Stürmen und gewaltigen Wellen. Die Wikinger gingen bis zum Äußersten. Sie kämpften, segelten, ruderten, bis ihre Hände voller Blasen waren. Sie schöpften Wasser aus dem leckgeschlagenen Rumpf. Sie schliefen kaum, und viele von ihnen litten unter der Seekrankheit.
    Dennoch sollte alles umsonst gewesen sein.
    An Bord herrschte sprachloses Entsetzen, als der Wellenspalter in den Hafen einfuhr. Vorbei an dümpelnden Kisten, Fässern und Planken, zerschlagenen Riemen und Mastspitzen, die wie gesplitterte Rippenknochen aus dem Wasser ragten. Die Landebrücken waren zerstört, die Hütten, in denen Fischer und Bootsbauer ihre Arbeitsgeräte aufbewahrten, eingerissen worden. Am Ufer lagen zerfetzte Netze und zerbrochene Werkzeuge herum.
    Pálnir trat an Hakons Seite. Für den Schmerz seines Freundes fand er keine tröstenden Worte.
    Hakons Blick fiel auf die Stadtmauer, die aussah, als wäre ein Riese durchmarschiert, mit gewaltigen, alles zermalmenden Füßen. Der Wachturm, der einst über dem Tor thronte, war zusammengestürzt, ebenso weite Teile der Palisaden auf dem Erdwall. Das Ausmaß der Zerstörung der Häuser in Hladir konnte Hakon bislang nur erahnen. Zu sehen war davon vom Hafen aus wenig. Nur hier und da ragten schwarz verkohlte Überreste von Dächern über den Wall.
    Der Rabe krallte sich an Hakons Schulter fest, als der Wellenspalter gegen die Pfähle einer eingebrochenen Landebrücke stieß. Er schrammte daran entlang, bis er im seichten Uferbereich auf Grund lief und mit einem Ruck zum Stehen kam. Beim Anlanden barsten mehrere Planken. Noch mehr Wasser sickerte ein. Doch niemand kümmerte sich darum. Der Wellenspalter, der nur noch ein Wrack war, würde diesen Ort der Zerstörung niemals wieder verlassen.
    Die Männer erhoben sich von den Ruderbänken, traten an die Landebrücke und warteten schweigend, bis Hakon seinen Platz am Vordersteven verließ, auf die Bordwand stieg und von dort aus an Land ging. Sie schauten ihm nach, wie er mit schweren Schritten durch den

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