Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
um besser sehen zu können. Unwillkürlich wich sie zurück. Mit einer Miene, die derart verächtlich wirkte, dass Anna ganz heiß wurde, wies eine der Frauen mit ausgestrecktem Finger auf sie. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Anna hörte ihr Lachen. Eine der Frauen hob die Hand, etwas wurde gegen die Butzenscheibe geworfen. Sie erstarrte, während sie beobachtete, wie Eidotter an ihrem Fenster hinablief und in der Kälte gefror. Ruckartig wandte sie sich ab und setzte sich zu Lenchen auf den Fußboden. Die Blicke der Frauen spürte sie wie Messerstiche im Rücken, bis sich die Schritte entfernten. Hässliche gelbe Schlieren warfen ein diffuses Muster an das Fenster.
Die Ereignisse der letzten Zeit mussten sich wie ein Lauffeuer in der Nachbarschaft verbreitet haben. Seit sie im Lochgefängnis gesessen hatte, mieden Korbinians Kunden und Nachbarn sie wie der Teufel das Weihwasser. Gut, Anna war es gewohnt, nie mit mehr als einem höflichen Nicken auf der Straße gegrüßt zu werden. Gegenüber der Gattin eines angesehenen Buchmalers durften sich die Leute schließlich keine Unhöflichkeit nachsagen lassen. Aber seit sie nur noch Korbinian Dietls Witwe war, ließen die Menschen jede Respektsbekundung wie Unrat achtlos fallen. Einzig Konrad Mutz hatte kurz nach dem Neujahrstag bei ihr angeklopft, natürlich nicht uneigennützig, und ihr geraten, Haus und Werkstatt zu verkaufen. Er selbst sei durchaus interessiert und könne ihr einen guten Preis zahlen. Anna hatte entschieden abgelehnt und ihn aufgefordert, das Haus auf der Stelle zu verlassen.
Mit einem unguten Gefühl erinnerte sie sich des Tages, als der Holzschnitzer in Begleitung dieses anderen Mannes Korbinian aufgesucht hatte. Sie schüttelte den Kopf. Ausgerechnet an Mutz sollte sie verkaufen? Alles in ihr sträubte sich dagegen. Noch – denn sie ahnte, dass sie eines Tages nicht mehr umhinkommen würde, sich von dem Haus zu trennen und sich anderswo einzumieten. Eine oder zwei Kammern, sie stellte keine Ansprüche, Sebastian würde schließlich nicht für alle Zeit bei ihr wohnen. Sie mussten alle beide unbedingt Arbeit finden.
Annas bisherige Bemühungen waren leider erfolglos geblieben. Die Gerber, deren Viertel sie normalerweise mied, suchten ständig Wäscherinnen, hatte sie geglaubt. Aber das schien ein Irrtum zu sein, denn sie war mit den Worten fortgeschickt worden, man benötige keine zusätzliche Arbeitskraft. Am folgenden Tag versuchte sie es bei den Schneidereien. Die scheelen Blicke, die Anna dort erntete, ließen vermuten, dass den Leuten hier ihre Geschichte ebenfalls zu Ohren gekommen war. Danach hatte sie es in den Spitälern versucht, aber ohne eine Ausbildung wollte sie auch dort niemand einstellen. So konnte es nicht weitergehen. Immer schwerer wurde ihr das Herz, während sie dasaß und darüber nachsann, was das neue Jahr wohl für sie und ihre kleine Familie bereithalten mochte.
» ›Denkt nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert‹, spricht der Herr. «
Der Prophet hob den Blick von der beim Evangelisten Matthäus aufgeschlagenen biblia. Prüfend ließ er ihn über die Männer schweifen, die sich in dem Saal versammelt hatten. Ein neu hinzugekommenes Mitglied hatte ihn der Bruderschaft erst kürzlich zur Verfügung gestellt. In den letzten Wochen war die Zahl seiner Anhänger auf gut fünfzig Männer angewachsen, aber an diesem besonderen Abend wollte Elia nur den engsten Kreis seiner Jünger um sich geschart wissen. Dazu zählten neben Sepp Stadler und Ferdinand Kärner auch Konrad Mutz, Dietrich Bratler und ein halbes Dutzend weitere Männer. Unter ihnen war auch Tilmann Schimpf.
Obwohl der Kupferschmied erst seit Kurzem der Bruderschaft angehörte, hatte Elia auch ihn zu sich gerufen. Der Mann machte einen vertrauenswürdigen Eindruck, wenngleich Sepp vor einigen Tagen die Vermutung geäußert hatte, Schimpf zweifle öfter an seinem Glauben. Die Bedenken ließen sich in einem Gespräch allerdings rasch ausräumen. Der Prophet hegte ein gewisses Verständnis für jene Männer, die mit Glaubenszweifeln zu kämpfen hatten, kannte er solche Gedanken selbst nur zu gut. Nachdem er den göttlichen Auftrag erhalten hatte, Sein Prophet zu sein, hatte Gottes Feind ihn immer wieder versucht, um ihn von seinem Weg abzubringen. Zuletzt, als er die Hure im Badehaus bestraft hatte. Wer niemals vom Teufel angegriffen wurde, musste sich fragen, ob er überhaupt ein wahrer Nachfolger
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