Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
Augen wurden groß.
» Rate mal, wo ich in vier Wochen anfange « , forderte er sie grinsend auf.
» Sag du es mir. «
» Ich mache eine Lehre in der Druckerei der Kobergers. «
» Wie willst du denn das Lehrgeld aufbringen? «
Er lehnte sich gegen die Tischkante. » Kein Lehrgeld, Anna, im Gegenteil! Sie bezahlen mich sogar! Acht Pfennige bekomme ich in der Woche. «
» Unmöglich, du musst dich verhört haben. «
» Nein, hab ich nicht. Weil sie mir nämlich keine Unterkunft und Verpflegung stellen müssen, wie es sonst üblich ist. Ich habe Herrn Koberger gesagt, dass ich bei meiner Schwester wohne. Der besten Schwester, die man sich nur vorstellen kann! « Wieder ergriff er ihre Hände. » Damit können wir in deinem Haus wohnen bleiben. «
Sie nahm ihn in den Arm. » Endlich eine gute Nachricht, Sebastian! «
Ja, dachte er, und Herr Freisler wird zufrieden sein, weil er in drei Jahren einen Schwiegersohn bekommt. Beim Gedanken an Barbara wurde ihm warm ums Herz.
Als Sebastian seine Schwester am zweiten Sonntag nach Trinitatis fragte, ob sie ihn in die Kirche begleiten wolle, willigte sie ein. Anna hatte schon seit Längerem keine Messe mehr besucht. Dass der Pfarrer die biblischen Lesungen inzwischen in deutscher Sprache hielt, war nur eine der Veränderungen, die ihr auffielen und die auf den wachsenden Einfluss Martin Luthers zurückzuführen waren, wie Sebastian ihr leise erklärte.
Als Anna hinter dem Bruder durch das weit geöffnete Portal ins Freie trat, musste sie einen Moment lang die Augen schließen, so grell schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel und tauchte den Kirchplatz in gleißendes Licht. Dann folgte sie Sebastian, vorbei an einer ganzen Schar abgerissener Bettler, die auf den Treppen und vor dem Portal auf das Ende des Gottesdienstes gewartet hatten. In der Menge der verkrüppelten Gestalten, die den Leuten ihre hölzernen Schalen entgegenhielten, erkannte Anna den einbeinigen Bettler namens Tassilo. Sie blieb stehen. Als sich ihre Blicke begegneten, huschte ein Zeichen des Wiedererkennens über das Gesicht des Alten.
» Frau Dietl, nicht wahr? «
» Ihr habt ein gutes Gedächtnis. «
Er grüßte ihren Bruder, der ebenfalls stehen geblieben war und den Mann freundlich musterte.
» Wo habt Ihr Eure Gefährten gelassen? « , wollte Anna wissen.
Der Bettler hob die knochigen Schultern. » Glatze und die anderen sitzen vor der Lorenzkirche. «
» Glatze? « , grinste Sebastian.
» Unser Kahlkopf. « Tassilo kratzte sich das stoppelige Kinn, das schon länger kein Schermesser mehr gesehen hatte.
Da steuerten der Kahlhäuptige und die drei anderen Mitglieder der Bettlergruppe über den nun wie leer gefegten Kirchplatz auf sie zu und ließen sich neben ihrem einbeinigen Freund auf den Stufen nieder.
Sebastian und Anna erwiderten den Gruß des Hageren mit der Glatze.
Tassilo kniff die Augen zusammen. » Hat sich’s für euch gelohnt? «
Der Kahlkopf klopfte auf den Beutel an seinem Gürtel. » Für zwei, drei Laibe Brot und ein paar Becher billigen Wein wird es reichen. «
» Wir sollten von hier weggehen « , meldete sich ein Bettler mit einer Augenklappe zu Wort, » vielleicht in die Gegend um Augsburg. Dort hat der Fugger im letzten Jahr eine ganze Siedlung nur für die Armen gebaut. Hab gehört, für einen Gulden im Jahr können die Leute dort wohnen. «
Tassilo wiegte den Kopf. » Das will gut überlegt sein. « Der Alte richtete den Blick auf Sebastian. » Ihr erinnert Euch sicher noch an meinen Freund Gottfried, von dem ich Euch erzählte, als wir uns kennengelernt haben. «
» Natürlich. Habt Ihr inzwischen herausgefunden, wo er sich aufhält? «
» Leider nicht Aber ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass dem Jungen etwas zugestoßen ist. Wisst Ihr, ich war so was wie ein Vater für ihn. Da verschwindet man doch nicht einfach, ohne sich zu verabschieden oder etwas von sich hören zu lassen. «
» Da habt Ihr recht. Sagt, Tassilo, kennt Ihr eigentlich einen jungen Mann namens Caspar? «
» Der Name sagt mir nichts. Wie sieht er aus? «
» Er hat nur noch einen Arm und eine Narbe im Gesicht. Ich war einige Zeit mit ihm befreundet. Hab ihn länger nicht gesehen. »
» Warum fragt Ihr nach diesem Caspar? «
» Ich überlege gerade, ob er wissen könnte, wo sich Euer Gottfried aufhält. «
Der Alte versprach, die Augen offen zu halten und Sebastian Bescheid zu geben, sollte er dem Einarmigen begegnen.
KAPITEL 42
D ie Marktverkäufer hatten bereits ihre
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