Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
» Ja, wie sieht er aus, der Gottfried? « Die vom Alter trübe gewordenen Augen des Einbeinigen wanderten in die Ferne. » Er könnte mein Sohn sein. Gottfried ist dünn wie eine Bohnenstange, weil er nie genug isst. « Der Alte biss herzhaft in die Brotscheibe. » Wir kennen ihn seit zehn Jahren. Damals haben wir den Kleinen mit uns genommen. Aus dem Hinterhof eines Nürnberger Knochenhauers haben wir ihn gerettet, wo er in den Abfällen herumgewühlt hatte. Dabei erwischte ihn dieser verdammte Köter und biss ihn in die Hand. Wollte den armen Jungen gar nicht mehr loslassen. « Der Mann verzog das Gesicht. » Das Mistvieh hat ihm glatt zwei Finger abgebissen! Hat geblutet wie ein Schwein, der arme Gottfried. Zum Glück hat ihn ein Bader, dem wir unsere letzten Groschen gaben, wieder zurechtgeflickt. «
Anna schauderte unwillkürlich. » Das tut mir leid, Tassilo « , antwortete sie. » Aber bisher bin ich niemandem begegnet, auf den diese Beschreibung zutrifft. «
» Na ja, wär ja auch ein Wunder, wenn Ihr unseren Freund getroffen hättet. « Der Einbeinige ließ den Rest der Brotscheibe in seinem Mund verschwinden. » Ach ja, als ich ihn zuletzt sah, hat er einen roten Schal aus guter englischer Wolle als Verband um seine Hand getragen. Er sagte, wenn der Winter ins Land zieht, schmerzen ihn seine Narben. « Der Bettler betrachtete seine knochigen Hände. » Den Schal hat er von jemandem geschenkt bekommen. So etwas Teures hätte er sich niemals leisten können. «
Unwillkürlich rückte Anna ein wenig von ihm ab.
Der Obdachlose registrierte es mit verengten Augen. » Ihr glaubt doch nicht etwa, dass er den Schal gestohlen hat? Seid Euch gewiss – wir stehlen nicht. Auch wir haben unseren Stolz, junges Weib! «
Hitze stieg in Annas Wangen, und sie murmelte eine Entschuldigung.
» Es ist leicht, über uns zu urteilen « , fuhr der Einbeinige unbeirrt fort. » Die Menschen werfen Bettler und Betrüger gern in einen Topf. Abschaum eben. Dabei waren wir alle einst Leute, die einer ehrlichen Arbeit nachgingen und in einer ordentlichen Kammer wohnten. Doch das Leben hat uns übel mitgespielt und aus uns gemacht, was wir heute sind. «
Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit. Die fünf Bettler bedankten sich höflich, wünschten Sebastian, Anna und Rupert eine gute Weiterreise und winkten ihnen hinterher.
KAPITEL 41
D ie Nürnberger stöhnten unter der Hitze des Sommers. Wie eine gewaltige Glocke lag sie über Stadt und Land, und nur selten brachte ein nächtlicher Regenguss etwas Abkühlung. Sebastian hatte sich mit Ulrich angefreundet, dem jungen Mann, der Albrecht Dürer bei der Arbeit mit der Druckerpresse half. Das große Gerät faszinierte ihn, und wann immer es ihm möglich war, sah er den beiden beim Drucken von Kupferstichen und Holzschnitten zu.
» Du stellst dich sehr geschickt an « , lobte der Meister ihn eines Morgens. Nachdenklich ruhte sein Blick auf Sebastian. » Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dich um eine Lehrstelle als Buchdrucker zu bemühen? «
» Ja, natürlich. Ich habe große Freude am Umgang mit dem Gerät « , gab er zu, » nur um eine Lehre in einer Buchdruckerei zu beginnen, müsste ich gewiss in eine andere Stadt ziehen. Aber die Menschen, die mir wichtig sind, leben hier in Nürnberg. «
» Ich verstehe. Nachdem deine Schwester und du einander erst vor Kurzem wiedergefunden habt, willst du sie nicht gleich wieder verlassen, nicht wahr? Nun, Sebastian, du hast wohl noch nie von den Kobergers gehört. «
» Die Buchhandlung in der Nähe von St. Egidien? «
» Richtig. Anton Kobergers Söhne handeln nicht nur mit Büchern, sie sind auch Verleger und besitzen eine Druckerei mit etlichen Druckerpressen. Obendrein beschäftigen sie mehrere Setzer, Drucker und Buchbinder. «
» Aber ob sie mich nehmen würden? So gut kenne ich mich mit der Druckerpresse wirklich nicht aus, Herr Dürer. «
» Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, du machst das bereits ganz gut « , schaltete sich Ulrich in das Gespräch ein, » außerdem dient eine Lehre bekanntlich dazu, etwas zu lernen. «
» So ist es, Ulrich. « Albrecht Dürer wandte sich zum Gehen. » Ich muss zurück in die Werkstatt. Überleg es dir, Sebastian. Wenn du bei den Kobergers anfangen möchtest, sag mir Bescheid. Dann stelle ich dir ein Empfehlungsschreiben aus, mit dem du ins Offizin gehen und darum bitten kannst, eine Buchdruckerlehre machen zu dürfen. «
» Das ist gut gemeint. Vielen Dank, Herr Dürer.
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