Das Lied von Eis und Feuer 04 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 04 - A Clash of Kings (Pages 332-728)
als vorher. Doch genug geredet. Du solltest schlafen. Wir haben noch viele Meilen vor uns und viele Gefahren. Du brauchst deine Kraft.«
Jon glaubte nicht, dass er leicht einschlafen würde, doch Halbhand hatte Recht. Er suchte sich eine windgeschützte Stelle unter einem vorstehenden Felsen und benutzte seinen Mantel als Decke. »Geist«, rief er, »hierher. Zu mir.« Er schlief stets besser, wenn der große weiße Wolf neben ihm lag; sein Geruch tröstete ihn, das zottelige helle Fell wärmte. Diesmal jedoch schaute Geist ihn nur an. Dann drehte er sich um, trabte um die Pferde herum und war plötzlich verschwunden. Er will jagen , dachte Jon. Vielleicht gab es hier in den Bergen Ziegen. Die Schattenkatzen mussten doch auch von irgendetwas leben. »Versuch bloß nicht, eine Katze zu fangen«, murmelte er. Selbst für einen Schattenwolf war das
gefährlich. Jon zog seinen Mantel über sich und streckte sich unter dem Fels aus.
Nachdem er die Augen geschlossen hatte, träumte er von Schattenwölfen.
Es waren fünf, doch eigentlich hätten es sechs sein sollen, und sie waren weit verteilt, jeder vom anderen getrennt. Er verspürte eine tiefe, schmerzhafte Leere, ein Gefühl der Unvollständigkeit. Der Wald war riesig und kalt, und sie waren so klein, so verloren. Seine Brüder waren irgendwo dort draußen, und seine Schwester auch, doch er hatte ihre Witterung verloren. Er hockte sich auf die Hinterpfoten, hob den Kopf zum Himmel, der gerade dunkel wurde, und ließ seinen Ruf durch den Wald hallen, lang und einsam und traurig. Dann spitzte er die Ohren und lauschte nach einer Antwort, doch er hörte nur das Seufzen des dahintreibenden Schnees.
Jon?
Der Ruf kam von hinten, leiser als ein Flüstern, trotzdem eindringlich. Kann ein Ruf still sein? Er wandte den Kopf und suchte nach seinem Bruder, nach einer schlanken grauen Gestalt unter den Bäumen, bloß war da nichts, nur …
Ein Wehrholzbaum.
Er schien aus dem massiven Fels zu wachsen, seine hellen Wurzeln krochen aus Myriaden von Spalten und haarfeinen Rissen. Im Vergleich mit anderen Wehrbäumen, die er gesehen hatte, war dieser klein, ein junger Baum, doch er wuchs, während Jon zuschaute, und die Äste wurden dicker, derweil sie in den Himmel griffen. Vorsichtig umkreiste Jon den glatten weißen Stamm, bis er zu dem Gesicht kam. Rote Augen blickten ihn an. Wild waren sie, und doch erfreut, ihn zu sehen. Der Wehrholzbaum hatte das Gesicht seines Bruders. Hatte sein Bruder schon immer drei Augen gehabt?
Nicht immer, ertönte der stille Ruf. Nicht, bevor die Krähe kam.
Er schnüffelte an der Rinde, roch den Wolf und den Baum
und den Jungen, doch dahinter lagen noch andere Gerüche, der volle, braune Duft warmer Erde und der harte, graue Duft von Stein und noch etwas, etwas Schreckliches. Tod, jetzt wusste er es. Er roch Tod. Mit gesträubten Haaren und gefletschten Reißzähnen wich er zurück.
Hab keine Angst, mir gefällt es im Dunkeln. Niemand kann dich sehen, aber du kannst sie sehen. Zuerst musst du allerdings deine Augen öffnen. Verstehst du? So. Und der Baum griff nach unten und berührte ihn.
Plötzlich war er wieder in den Bergen, seine Pfoten versanken tief in einer Schneewehe, und er stand am Rand eines tiefen Abgrunds. Der Klagende Pass öffnete sich vor ihm in luftige Leere, und ein lang gezogenes, V-förmiges Tal breitete sich unter ihm aus wie eine Flickendecke in den Farben eines Herbstnachmittags.
Das eine Ende des Tals wurde durch eine blauweiße Mauer versperrt, die sich zwischen die Berge drängte, als habe sie diese zur Seite geschoben, und einen Moment lang glaubte er, sein Traum habe ihn zurück zur Schwarzen Festung geführt. Dann begriff er, dass er einen Strom aus Eis betrachtete, der einige Tausend Meter hoch war. Unter dieser glitzernden kalten Steilwand lag ein großer See, in dessen kobaltblauem Wasser sich die schneebedeckten Gipfel spiegelten. Unten im Tal waren Männer, erkannte er jetzt; viele Männer, Tausende, ein riesiges Heer. Einige rissen große Löcher in den halb gefrorenen Boden, während andere für den Krieg übten. Er beobachtete einen Schwarm Reiter, die einen Schildwall angriffen und auf ihren Pferden kaum größer als Ameisen wirkten. Der Lärm ihrer gespielten Schlacht klang wie das Rasseln stählerner Blätter und wurde schwach vom Wind herangetragen. Ihr Lager hatten sie ohne Plan aufgebaut; er sah keine Gräben, keine angespitzten Pfähle, keine ordentlichen Reihen angepflockter Pferde. Überall
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