Das Lied von Eis und Feuer 04 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 04 - A Clash of Kings (Pages 332-728)
nicht wagen. Wo es drei Wächter gab, mochten sich auch noch andere aufhalten, die nur darauf warteten, Alarm zu geben.
Steinschlange rollte sich in seinen zerlumpten Pelzmantel und war sofort eingeschlafen. Jon teilte sein Pökelfleisch mit Geist, während Ebben und Knappe Dalbrück die Pferde fütterten. Qhorin Halbhand saß mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt und wetzte die Schneide seines Langschwerts mit langsamen Streichen. Jon sah dem Grenzer eine Weile zu, dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und trat zu ihm. »Mylord«, begann er, »Ihr habt mich nie gefragt, wie es gegangen ist. Mit dem Mädchen.«
»Ich bin kein Lord, Jon Schnee.« Qhorin ließ den Stein mit seiner zweifingrigen Hand über den Stahl gleiten.
»Sie hat gesagt, Manke würde mich aufnehmen, wenn ich mit ihr fliehen würde.«
»Da hat sie dir die Wahrheit gesagt.«
»Außerdem hat sie sogar behauptet, wir wären verwandt. Sie hat mir eine Geschichte erzählt …«
»… von Bael dem Barden und der Rose von Winterfell. Das hat mir Steinschlange erzählt. Zufällig kenne ich das Lied. Manke hat es immer gesungen, wenn er von seinen Streifzügen zurückkehrte. Die Musik der Wildlinge war seine Leidenschaft. Ja, und ihre Frauen auch.«
»Ihr habt ihn gekannt?«
»Wir haben ihn alle gekannt.« Seine Stimme klang traurig.
Früher waren sie Freunde und Brüder, begriff Jon, und jetzt sind sie geschworene Feinde. »Warum ist er desertiert?«
»Wegen eines Mädchens, sagen manche. Wegen einer Krone, behaupten andere.« Qhorin prüfte die Schneide des
Schwertes mit dem Daumenballen. »Er mochte Frauen, ja, die mochte Manke gewiss, und er war auch nicht der Mann, der leicht die Knie beugte, das stimmt auch. Aber es steckte mehr dahinter. Er hat die Wildnis mehr geliebt als die Mauer. Das hatte er im Blut. Er war als Wildling geboren worden und kam als Kind zu uns, nachdem ein paar Banditen durch das Schwert gerichtet worden waren. Als er den Schattenturm verließ, ist er lediglich heimgekehrt.«
»War er ein guter Grenzer?«
»Er war der Beste von uns«, sagte Halbhand, »und gleichzeitig der Schlimmste. Nur Narren wie Thoren Kleinwald verachten die Wildlinge. Sie sind genauso tapfer wie wir, Jon. Genauso stark, genauso schnell, genauso klug. Ihnen fehlt lediglich die Disziplin. Sich selbst nennen sie das freie Volk, und jeder von ihnen hält sich für ebenso viel wert wie ein König und für ebenso weise wie ein Maester. Bei Manke war es nicht anders. Er hat nie Gehorsam gelernt.«
»Genau wie ich«, sagte Jon leise.
Qhorin schien mit seinen scharfen Augen geradewegs durch ihn hindurchzustarren. »Du hast sie also laufen lassen? « Er klang nicht im Mindesten überrascht.
»Ihr habt es gewusst?«
»Jetzt weiß ich es. Warum hast du sie verschont?«
Es fiel ihm schwer, es in Worte zu fassen. »Mein Vater hatte niemals einen Henker. Er hat immer gesagt, wenn er einen Mann töte, wäre er es ihm schuldig, ihm dabei in die Augen zu sehen und sich seine letzten Worte anzuhören. Und als ich Ygritte in die Augen gesehen habe …« Jon betrachtete hilflos seine Hände. »Ich weiß, dass sie unsere Feindin ist, aber sie hatte nichts Böses in sich.«
»Nicht mehr als die beiden anderen.«
»Da hieß es, ihr Leben oder unseres«, erwiderte Jon. »Hätten sie uns bemerkt, hätten sie ins Horn gestoßen …«
»Die Wildlinge würden uns inzwischen jagen und niedermachen, das stimmt.«
»Jetzt hat Steinschlange das Horn, und Ygritte haben wir das Messer und die Axt abgenommen. Sie ist hinter uns, zu Fuß, unbewaffnet …«
»Und offenbar keine Bedrohung«, stimmte Qhorin zu. »Hätte ich ihren Tod wirklich für notwendig gehalten, hätte ich Ebben bei ihr gelassen oder es selbst erledigt.«
»Warum habt Ihr es dann mir befohlen?«
»Ich habe es dir nicht befohlen, sondern nur gesagt, dass du tun sollst, was getan werden muss; die Entscheidung darüber, was, habe ich dir überlassen.« Qhorin erhob sich und schob das Langschwert in die Scheide. »Wenn ich möchte, dass ein Berg erklommen wird, rufe ich Steinschlange. Wenn auf einem windigen Schlachtfeld ein Pfeil das Auge eines bestimmten Feindes treffen soll, wende ich mich an den Knappen Dalbrück. Ebben bringt jeden dazu, seine Geheimnisse preiszugeben. Um Männer zu führen, musst du sie kennen, Jon Schnee. Jetzt weiß ich mehr über dich als heute Morgen. «
»Und wenn ich sie getötet hätte?«, fragte Jon.
»Dann wäre sie tot, und ich würde trotzdem mehr über dich wissen
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