Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
beklagenswertes Geschöpf. Schon immer war er ein beklagenswertes Geschöpf
gewesen. Warum hatte sie das vorher nie gesehen? In ihrem Inneren war eine Leere, wo einst ihre Angst gewesen war.
»Nehmt sein Pferd«, befahl Dany Ser Jorah. Staunend sah Viserys sie an. Er konnte nicht glauben, was er hörte, und ebenso wenig konnte Dany fassen, was sie sagte. Dennoch kamen die Worte hervor. »Lasst meinen Bruder hinter uns zum Khalasar zurücklaufen.« Für die Dothraki war der Mann, der nicht ritt, kein Mann, der Niederste der Niederen, ohne Ehre oder Stolz. »Lasst jedermann sehen, was er ist.«
»Nein!« , schrie Viserys. Er wandte sich Ser Jorah zu, flehte ihn in der Gemeinen Zunge mit Worten an, welche die Reiter nicht verstanden. »Schlagt sie, Mormont. Prügelt sie. Euer König befiehlt es. Tötet diese dothrakischen Hunde, dass es ihr eine Lehre ist.«
Der verbannte Ritter sah von Dany zu ihrem Bruder. Sie barfuß mit Schmutz zwischen den Zehen und Öl im Haar, er mit Seide und Stahl. Dany konnte den Entschluss von seinem Gesicht ablesen. »Er wird laufen, Khaleesi «, sagte er. Er nahm das Pferd ihres Bruders, während Dany ihre Silberne bestieg.
Mit offenem Mund sah Viserys ihn an und setzte sich in den Dreck. Er hielt den Mund, doch wollte er sich nicht rühren, und seine Augen versprühten Gift, als sie weiterritten. Bald schon hatte er sich im hohen Gras verirrt. Als sie ihn nicht mehr sehen konnten, bekam Dany es mit der Angst zu tun. »Wird er den Weg finden?«, fragte sie Ser Jorah, während sie ritten.
»Selbst jemand, der wie Euer Bruder mit Blindheit geschlagen ist, sollte in der Lage sein, unserer Spur zu folgen«, erwiderte er.
»Er ist stolz. Vielleicht schämt er sich zu sehr, um zurückzukommen. «
Jorah lachte. »Wohin sollte er gehen? Wenn er das Khalasar nicht findet, dürfte das Khalasar mit großer Wahrscheinlichkeit ihn finden. Es ist schwer, im Dothrakischen Meer zu ertrinken, Kind.«
Dany erkannte, dass er Recht hatte. Das Khalasar war wie eine marschierende Stadt, doch marschierte sie nicht blindlings. Stets ritten Kundschafter weit vor der Hauptkolonne, wachsam auf der Suche nach Wild oder Beute oder Feinden, während Vorreiter das Heer flankierten. Ihnen entging nichts, nicht hier, in diesem Land, aus dem sie stammten. Diese Steppen waren ein Teil von ihnen … und jetzt auch von ihr.
»Ich habe ihn geschlagen«, wunderte sie sich. Da es nun vorüber war, erschien es ihr wie ein seltsamer Traum, den sie geträumt hatte. »Ser Jorah, glaubt Ihr … er wird so wütend sein, wenn er zurückkommt …« Ein Schauer durchfuhr sie. »Ich habe den Drachen geweckt, nicht?«
Ser Jorah schnaubte. »Kann man die Toten wecken, Mädchen? Euer Bruder Rhaegar war der letzte Drache, und der ist am Trident gefallen. Viserys ist kaum der Schatten einer Schlange.«
Seine schroffen Worte erstaunten sie. Es war, als sei alles, was sie je geglaubt hatte, in Frage gestellt. »Ihr … Ihr habt ihm Euer Schwert geweiht …«
»Das habe ich getan, Mädchen«, gestand Ser Jorah ein. »Und wenn Euer Bruder der Schatten einer Schlange ist, wozu macht das seine Diener?« Seine Stimme klang verbittert.
»Er ist noch immer der wahre König. Er ist …«
Jorah hielt sein Pferd an und sah zu ihr herüber. »Sprecht die Wahrheit. Würdet Ihr Viserys auf einem Thron sehen wollen?«
Dany dachte darüber nach. »Er wäre kein sehr guter König, oder?«
»Es haben schon Schlimmere geherrscht … wenn auch nicht viele.« Der Ritter gab seinem Pferd die Sporen und ritt voran.
Dany ritt nah an seiner Seite. »Dennoch«, beharrte sie. »Das gemeine Volk wartet auf ihn. Magister Illyrio sagt, sie nähen Drachenbanner und beten um Viserys’ Rückkehr über die Meerenge, damit er sie befreien soll.«
»Das gemeine Volk betet um Regen, gesunde Kinder und einen Sommer, der nie endet«, erklärte ihr Ser Jorah. »Ihm ist es egal, ob die hohen Herren um den Thron würfeln, solange man es nur in Frieden lässt.« Er zuckte mit den Achseln. »So war es schon immer.«
Schweigend ritt Dany eine Weile, rang mit seinen Worten wie mit einem Vexierspiegel. Es widersprach allem, was Viserys ihr je gesagt hatte, wenn sie glauben sollte, dass es die Menschen so wenig interessierte, ob ein wahrer König oder ein Usurpator über sie regierte. Doch je länger sie über Jorahs Worte nachsann, desto wahrer klangen sie in ihren Ohren.
»Worum betet Ihr , Ser Jorah?«, fragte sie ihn.
»Heimat«, sagte er. Seine Stimme war von
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