Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
aufschlägst, entgegnete die Krähe. Sie machte sich wieder an ihr Futter.
Bran sah hinab. Jetzt konnte er die Berge sehen, die weißen Gipfel schneebedeckt, und die silbernen Fäden von Flüssen in dunklen Wäldern. Er schloss die Augen und weinte.
Das wird dir nichts nützen, krächzte die Krähe. Ich habe es dir gesagt, die Antwort lautet fliegen, nicht flennen. Kann es denn so schwierig sein? Ich mache es doch auch. Die Krähe hob ab und umflatterte Brans Hand.
»Du hast Flügel«, erinnerte Bran sie.
Du vielleicht auch.
Bran betastete seine Schultern, suchte nach Flügeln.
Es gibt noch eine andere Art von Flügeln, sagte die Krähe.
Bran starrte seine Arme an, seine Beine. Er war so dünn, nur Haut, die sich stramm über die Knochen spannte. War er schon immer so dünn gewesen? Er versuchte, sich zu erinnern. Ein Gesicht tauchte aus dem grauen Nebel vor ihm auf, schimmerte von Licht, golden. »Was man nicht alles für die Liebe tut«, sagte es.
Bran schrie.
Die Krähe erhob sich krächzend in die Luft. Nicht das,
kreischte sie ihn an. Vergiss es, das brauchst du jetzt nicht, schaff es beiseite, schaff es aus dem Weg. Sie landete auf Brans Schulter und hackte auf ihn ein, und das goldene Gesicht war fort.
Bran fiel schneller als zuvor. Die grauen Nebel heulten um ihn, während er der Erde unter sich entgegenstürzte. »Was tust du mir an?«, fragte er die Krähe unter Tränen.
Ich lehre dich das Fliegen.
»Ich kann nicht fliegen!«
Du fliegst gerade.
»Ich falle!«
Jeder Flug beginnt mit einem Fall, erklärte die Krähe. Sieh hinab.
»Ich fürchte mich …«
SIEH HINAB!
Bran sah hinab und spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Der Boden raste ihm entgegen. Die ganze Welt lag unter ihm ausgebreitet, ein Teppich von Weiß und Braun und Grün. Er konnte alles so deutlich sehen, dass er einen Augenblick seine Angst vergaß. Das ganze Reich konnte er sehen und jeden darin.
Er sah Winterfell, wie die Adler es sehen, die hohen Türme, die von oben dick und geduckt aussahen, die Burgmauern nur Striche im Schmutz. Er sah Maester Luwin auf seinem Balkon, wie er den Himmel durch ein poliertes Bronzerohr studierte und seine Stirn runzelte, wenn er Notizen in ein Buch eintrug. Er sah seinen Bruder Robb, größer und stärker, als er ihn in Erinnerung hatte, wie er sich auf dem Hof im Schwertkampf übte, mit echtem Stahl in der Hand. Er sah Hodor, den tumben Riesen aus den Ställen, wie er einen Amboss in Mikkens Schmiede trug, indem er ihn sich ohne Mühen auf die Schulter schwang wie andere einen Heuballen. Im Herzen des Götterhains brütete der große, weiße Wehrbaum über seinem Spiegelbild im schwarzen Teich, und seine Blätter raschelten im kühlen Wind. Als er merkte, dass Bran ihn ansah, hob er seinen Blick vom stillen Wasser und starrte ihn wissend an.
Er blickte gen Osten und sah eine Galeere, die durch die Fluten des Biss fegte. Er sah seine Mutter allein in einer Kabine sitzen, wie sie ein blutiges Messer auf dem Tisch vor sich betrachtete, während die Ruderer an ihren Riemen rissen und Ser Rodrik über der Reling hing, zitternd und würgend. Vor ihnen braute sich ein Sturm zusammen, ein mächtiges, düsteres Brüllen, von peitschenden Blitzen durchzogen, doch irgendwie konnten sie es nicht sehen.
Er blickte gen Süden und sah den mächtigen, blaugrünen Strom des Trident. Er sah, wie sein Vater den König anflehte, die Trauer in sein Gesicht gemeißelt. Er sah, wie sich Sansa des Nachts in den Schlaf weinte, und er sah, wie Arya sie schweigend betrachtete und ihre Geheimnisse hart in ihrem Herzen behielt. Sie waren von Schatten umgeben. Ein Schatten war dunkel wie Asche, mit dem schrecklichen Gesicht eines Bluthunds. Ein anderer war gepanzert wie die Sonne, golden und wunderschön. Über beiden ragte ein Riese mit steinerner Rüstung auf, doch als er sein Visier öffnete, waren darin nichts als Finsternis und dickes, schwarzes Blut.
Er blickte auf und sah deutlich über die Meerenge hinweg zu den Freien Städten, der grünen dothrakischen See und darüber hinaus nach Vaes Dothrak unter dessen Berg, zu den sagenhaften Inseln der Jadesee, nach Asshai, wo jenseits der Morgenröte die Drachen erwachten.
Schließlich blickte er gen Norden. Er sah die Mauer wie blauen Kristall leuchten und seinen Halbbruder Jon allein in einem kalten Bett schlafen, und dessen Haut wurde fahl und hart, während ihm alle Erinnerung an Wärme entfloh. Und er blickte über die Mauer, über endlose,
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