Das Lied von Eis und Feuer 7 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 7 - A Feast of Crows. A Song of Ice and Fire, vol 4 (4/1)
erzählt.« Er legte den Kopf schief. »Und wer bist du, Kind?«
»Niemand.«
»Eine Lüge.«
»Woher wisst Ihr das? Durch Magie?«
»Man braucht kein Zauberer zu sein, um Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, nicht wenn man Augen im Kopf hat. Man braucht nur zu lernen, in einem Gesicht zu lesen. Sieh dir die Augen an. Den Mund. Die Muskeln hier an den
Rändern des Kiefers, und hier, wo der Hals in die Schultern übergeht.« Er berührte sie leicht mit zwei Fingern. »Manche Lügner blinzeln. Andere starren. Wieder andere sehen zur Seite. Manche fahren sich mit der Zunge über die Lippen. Viele bedecken den Mund, ehe sie eine Lüge aussprechen, als wollten sie die Falschheit verbergen. Andere Zeichen mögen weniger auffällig sein, aber sie sind immer vorhanden. Ein falsches Lächeln und ein echtes sehen womöglich gleich aus, dennoch sind sie so unterschiedlich wie Morgen- und Abenddämmerung. Kannst du die Morgen- und die Abenddämmerung voneinander unterscheiden?«
Arya nickte, obwohl sie sich nicht sicher war.
»Dann kannst du auch lernen, eine Lüge zu erkennen … und wenn du das kannst, wird kein Geheimnis mehr vor dir sicher sein.«
»Lehrt es mich.« Sie würde niemand sein, wenn das der Preis dafür war. Niemand hatte kein Loch im Innern.
» Sie wird es dich lehren«, sagte der Gütige Mann, als die Heimatlose vor ihrer Tür erschien. »Zunächst wird sie mit der Sprache von Braavos beginnen. Wozu taugst du, wenn du nicht sprechen oder verstehen kannst? Und du wirst ihr deine eigene Sprache beibringen. Ihr beiden werdet gemeinsam lernen, eine von der anderen. Wirst du das tun?«
»Ja«, sagte sie, und von diesem Augenblick an war sie Novizin im Haus von Schwarz und Weiß. Das Dienergewand nahm man ihr ab, stattdessen erhielt sie eine Robe, eine schwarz-weiße Robe, die so butterweich war wie die alte rote Decke, die sie einst in Winterfell gehabt hatte. Darunter trug sie Wäsche aus feinem weißen Leinen und ein schwarzes Hemd, das bis zum Knie herabhing.
Danach verbrachten sie und die Heimatlose viel Zeit damit, auf Dinge zu zeigen und sie zu berühren, um sich so gegenseitig die entsprechenden Wörter der jeweils anderen Sprache beizubringen. Zunächst waren es einfache Begriffe, Becher, Kerze und Schuh; dann schwierigere, am Ende Sätze. Syrio
Forel hatte Arya oft auf einem Bein stehen lassen, bis sie zitterte. Später hatte er sie auf Katzenjagd geschickt. Sie hatte den Wassertanz auf den Ästen von Bäumen getanzt, mit einem Stock als Schwert. Das alles war schwer gewesen, dies hier jedoch war noch schwerer.
Sogar Nähen macht mehr Spaß, als eine Sprache zu lernen, sagte sie sich nach einem Abend, an dem sie die Hälfte der Worte, die sie eigentlich zu kennen glaubte, vergessen und die andere Hälfte so schrecklich ausgesprochen hatte, dass die Heimatlose Arya auslachte. Meine Sätze sind genauso unbeholfen wie früher meine Stiche. Wäre das Mädchen nicht so klein und ausgehungert gewesen, hätte Arya ihr das dumme Gesicht zerschlagen. Stattdessen kaute sie auf ihrer Unterlippe. Zu dumm zum Lernen und zu dumm, um aufzugeben.
Die Heimatlose eignete sich die Gemeine Zunge rascher an. Eines Tages beim Abendessen wandte sie sich an Arya und fragte: »Wer bist du?«
»Niemand«, antwortete Arya in Braavosi.
»Du lügst«, sagte die Heimatlose. »Du musst guter lügen.«
Arya lachte. »Guter? Du meinst besser , Dummkopf.«
»Besser Dummkopf. Ich werde dir zeigen.«
Am nächsten Tag begann das Lügenspiel, bei dem sie einander abwechselnd Fragen stellten. Manchmal antworteten sie ehrlich, dann wieder logen sie. Die Fragende musste entscheiden, was wahr und was falsch war. Die Heimatlose schien es jedes Mal zu wissen. Arya musste raten. Meistens riet sie falsch.
Einmal fragte die Heimatlose in der Gemeinen Zunge: »Wie viele Jahre hast du?« »Zehn«, antwortete Arya und hob zehn Finger. Sie dachte , sie sei immer noch zehn, obwohl sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Die Braavosi zählten die Tage anders, als man es in Westeros hielt. Nach allem, was sie wusste, war ihr Namenstag bereits verstrichen.
Die Heimatlose nickte. Arya erwiderte das Nicken und fragte in ihrem besten Braavosi: »Wie viele Jahre hast du ?«
Die Heimatlose zeigte zehn Finger. Dann wieder zehn und noch einmal zehn. Schließlich sechs. Ihr Gesicht blieb so reglos wie ein stiller See. Sie kann nicht sechsunddreißig sein, dachte Arya. Sie ist ein kleines Mädchen. »Du lügst«, sagte sie. Die Heimatlose
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