Das Lied von Eis und Feuer 7 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 7 - A Feast of Crows. A Song of Ice and Fire, vol 4 (4/1)
bewölkt, und Nebel hatte sich wie eine ausgefranste graue Decke über den Boden gelegt. Rechts hörte sie Ruderschläge vom Kanal. Braavos, die Geheime Stadt, dachte sie. Der Name erschien ihr ausgesprochen passend. Sie schlich die steile Treppe zu dem überdachten Anleger hinunter, und der Nebel waberte um ihre Beine. Im dichten Dunst konnte sie das Wasser nicht sehen, doch sie hörte, wie es leise an die Steinpfeiler schwappte. In der Ferne brannte ein Licht im Dunkel: das Nachtfeuer am Tempel der Roten Priester, dachte sie.
Am Rande des Kanals blieb sie mit der Silbergabel in der Hand stehen. Sie war aus echtem Silber, durch und durch massiv. Das ist nicht meine Gabel. Salzy hat sie geschenkt bekommen. Sie schleuderte die Gabel fort und hörte das leise Plumps , mit dem sie im Wasser versank.
Ihr Schlapphut folgte als Nächstes, dann die Handschuhe. Die gehörten ebenfalls Salzy. Sie leerte ihren Geldbeutel in die Hand: fünf Silberhirschen, neun Kupfersterne, einige Heller, halbe Heller und Groschen. Sie verstreute die Münzen im Wasser. Nun waren die Stiefel dran. Sie platschten am lautesten. Danach folgte ihr Dolch, der, den sie dem Bogenschützen abgenommen hatte, der den Bluthund um Gnade angefleht hatte. Ihr Schwertgurt fiel in den Kanal. Ihr Mantel, ihr Hemd, die Hose, die Leibwäsche, alles. Alles außer Nadel.
Sie stand am Rande des Anlegers im Nebel, blass, zitternd und mit Gänsehaut überzogen. Nadel lag in ihrer Hand und schien ihr etwas zuzuflüstern. Zustechen nur mit dem spitzen
Ende , wisperte das Schwert, und: Sag Sansa nichts davon. Mikkens Zeichen war auf der Klinge. Es ist nur ein Schwert. Wenn sie ein Schwert brauchte, gab es hundert Stück unter dem Tempel. Nadel war für ein richtiges Schwert zu klein, es war kaum mehr als ein Spielzeug. Sie war ein dummes kleines Mädchen gewesen, als Jon es für sie hatte machen lassen. »Es ist nur ein Schwert«, sagte sie, diesmal laut.
… doch das stimmte nicht.
Nadel war Robb und Bran und Rickon, war ihre Mutter und ihr Vater, sogar Sansa. Nadel war Winterfells graue Mauer und das Lachen seiner Menschen. Nadel war der Sommerschnee, die Geschichten der Alten Nan, der Herzbaum mit den roten Blättern und dem unheimlichen Gesicht, der warme Erdgeruch des Glasgartens, das Geräusch des Nordwindes, der die Fensterläden ihres Zimmers klappern ließ. Nadel war Jon Schnees Lächeln. Er hat mir immer das Haar zerzaust und mich »kleine Schwester« genannt, erinnerte sie sich, und plötzlich standen ihr Tränen in den Augen.
Polliver hatte ihr das Schwert gestohlen, als die Männer des Reitenden Bergs sie gefangen genommen hatten, doch als sie und der Bluthund das Gasthaus am Kreuzweg betreten hatten, war es plötzlich wiederaufgetaucht. Die Götter wollten, dass ich es zurückbekomme. Nicht die Sieben, nicht Er mit den Vielen Gesichtern, sondern die Götter ihres Vaters, die alten Götter des Nordens. Der Vielgesichtige Gott kann den Rest haben, dachte sie, aber das hier kriegt er nicht.
Nackt wie an ihrem Namenstag tappte sie die Treppe hinauf und umklammerte Nadel. Auf halbem Weg nach oben wackelte einer der Steine unter ihren Füßen. Arya kniete nieder und packte die Kanten mit den Fingern. Zuerst wollte er sich nicht bewegen, doch sie gab nicht auf und kratzte den bröckelnden Mörtel mit den Nägeln heraus. Schließlich lockerte sich der Stein. Sie ächzte, bekam beide Hände in die Fuge und zog. Vor ihr öffnete sich ein Spalt.
»Hier bist du in Sicherheit«, sagte sie zu Nadel. »Niemand
außer mir wird wissen, wo du bist.« Sie schob das Schwert und die Scheide hinter die Stufe, dann schob sie den Stein wieder an Ort und Stelle zurück, so dass er sich von den anderen nicht unterschied. Während sie zum Tempel hinaufstieg, zählte sie die Stufen, um sich die Stelle zu merken, wo sie das Schwert versteckt hatte. Eines Tages würde sie es vielleicht brauchen. »Eines Tages«, flüsterte sie.
Dem Gütigen Mann erzählte sie nicht, was sie getan hatte, dennoch wusste er Bescheid. Am nächsten Abend kam er nach dem Essen in ihre Zelle. »Kind«, sagte er, »komm, setz dich zu mir. Ich muss dir eine Geschichte erzählen.«
»Was für eine Geschichte?«, fragte sie argwöhnisch.
»Die Geschichte von unseren Anfängen. Wenn du eine von uns werden willst, solltest du wissen, wer wir sind und woher wir gekommen sind. Die Menschen munkeln allerlei über die Männer ohne Gesicht aus Braavos, dabei sind wir älter als die Geheime Stadt. Schon bevor
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