Das Lied von Eis und Feuer 7 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 7 - A Feast of Crows. A Song of Ice and Fire, vol 4 (4/1)
sie. »Zieh die Augenbrauen hoch. Nein, höher.« Auch das tat sie. »Gut. Probier aus, wie lange du es halten kannst. Lange wird es nicht sein. Versuche es morgen wieder. In den Kellergewölben findest du einen Spiegel aus Myr. Übe jeden Tag eine Stunde davor. Augen, Nasenflügel, Wangen, Ohren, Lippen, lerne sie alle zu beherrschen.« Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Wer bist du?«
»Niemand.«
»Eine Lüge. Eine jämmerliche kleine Lüge, Kind.«
Am nächsten Tag fand sie den myrischen Spiegel, und jeden Morgen und Abend saß sie davor, links und rechts von sich jeweils eine Kerze, und schnitt Grimassen. Beherrsche dein Gesicht, sagte sie zu sich, und du kannst lügen.
Kurze Zeit später befahl ihr der Gütige Mann, den anderen Akolythen beim Herrichten der Leichen zu helfen. Die Arbeit war nicht annähernd so schwer wie das Treppenschrubben für
Wies. Manchmal kämpfte sie mit dem Gewicht, wenn der Tote groß oder fett war, die meisten Verstorbenen jedoch bestanden nur aus alten trockenen Knochen in runzliger Haut. Arya betrachtete sie, während sie sie wusch, und fragte sich, was sie zu dem schwarzen Becken geführt haben mochte. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die die Alte Nan erzählt hatte, darüber, dass zuweilen in harten Wintern Männer, die ihre Jahre überlebt hatten, verkündeten, sie wollten auf die Jagd gehen. Und ihre Töchter weinten, und ihre Söhne wandten die Gesichter dem Feuer zu, hörte sie die Alte Nan sagen, aber niemand hielt sie auf oder fragte sie, welches Wild sie jagen wollten, wo doch der Schnee so hoch lag und der kalte Wind heulte. Sie fragte sich, was die alten Braavosi ihren Söhnen und Töchtern erzählten, wenn sie sich zum Haus von Schwarz und Weiß aufmachten.
Der Mond nahm zu und ab und wieder zu, doch Arya bekam ihn niemals zu Gesicht. Sie diente, sie wusch die Toten, sie schnitt Grimassen vor dem Spiegel, sie lernte die Sprache von Braavos und versuchte, nicht zu vergessen, dass sie niemand war.
Eines Tages schickte der Gütige Mann nach ihr. »Deine Aussprache ist fürchterlich«, sagte er, »aber du kennst genug Worte, um dich einigermaßen verständlich zu machen. Es ist an der Zeit, dass du uns für eine Weile verlässt. Nur auf eine einzige Weise wirst du jemals lernen, unsere Sprache richtig zu beherrschen, und zwar indem du sie jeden Tag von früh bis spät sprichst. Du musst gehen.«
»Wann?«, fragte sie. »Wohin?«
»Jetzt«, antwortete er. »Jenseits dieser Mauern findest du die Hundert Inseln von Braavos im Meer. Du hast die Worte für Miesmuschel, Herzmuschel und Klaffmuschel gelernt, nicht wahr?«
»Ja.« Sie wiederholte sie in ihrem besten Braavosi.
Ihr bestes Braavosi brachte ihn zum Lächeln. »Es wird schon reichen. An den Kais unterhalb der Überfluteten Stadt findest du einen Fischhändler namens Brusco, einen guten Mann mit
einem argen Rückenleiden. Er braucht ein Mädchen, das seinen Karren schiebt und seine Herzmuscheln, Klaffmuscheln und Miesmuscheln an die Seeleute von den Schiffen verkauft. Dieses Mädchen wirst du sein. Verstehst du?«
»Ja.«
»Und wenn Brusco dich fragt, wer du bist?«
»Niemand.«
»Nein. Außerhalb dieses Hauses ist das nicht angebracht.«
Sie zögerte. »Ich könnte Salzy aus Salzpfann sein.«
»Salzy ist Ternesio Terys und den Männern der Tochter des Titanen bekannt. Allein durch die Art, wie du sprichst, fällst du auf, deshalb musst du ein Mädchen aus Westeros sein … aber ein anderes Mädchen, denke ich.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Könnte ich Katz sein?«
»Katz.« Er dachte nach. »Ja. Braavos ist voller Katzen. Eine mehr wird keine Aufmerksamkeit erregen. Du bist Katz, eine Waise aus …«
»Königsmund.« Sie hatte Weißwasserhafen zweimal mit ihrem Vater besucht, doch in Königsmund kannte sie sich besser aus.
»Genau. Dein Vater war Rudermeister auf einer Galeere. Als deine Mutter starb, hat er dich mit auf See genommen. Dann ist er auch gestorben, und sein Kapitän hatte keine Verwendung für dich, also hat er dich in Braavos von Bord geschickt. Und wie hieß das Schiff?«
» Nymeria «, antwortete sie sofort.
In dieser Nacht verließ sie das Haus von Schwarz und Weiß. An der rechten Hüfte trug sie ein langes Eisenmesser, verborgen von ihrem Mantel, einem geflickten, ausgeblichenen Kleidungsstück von der Art, die eine Waise tragen mochte. Ihre Schuhe drückten an den Zehen, ihr Gewand war so zerschlissen, dass der Wind glatt hindurchblies. Doch Braavos lag vor
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