Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
wert? Starr von all den Konsequenzen saß er vor dem Feuer. Unfähig. Allein. Er saß da und vergass die Zeit. Es wurde dunkler, er dachte nach, es wurde Nacht, er grübelte. Er konnte nicht damit aufhören, verband die unvollendeten Gedanken mit unvollendeten Taten, verknotete sie zu einem Desaster ohne Sinn. Mal war er die Nacht dann wieder ein zerschossener Held, der stolperte und blutend auf einem namenlosen Steg endete.
The Night Captain!
Robert lachte leise. Er wollte dieses Bild vernichten! Und all seine Bedeutung. Als er kurz davor war, die Zeitungsseite in die Flammen zu halten, damit er vielleicht auf diese Weise eine Antwort bekam, huschte ein kleiner Nebel daraus hervor, verwirbelte sich auf seinem Handrücken, nahm Gestalt an.
Poe.
»Was machst du denn hier, kleiner Mann?«
Die flauschigen Ohren des Clangeistes zuckten aufgeregt, stellten sich nach vorn. ›Waren da etwa die Backentaschen voll?‹ Robert hob ihn hoch und stupste seine Nase an die des Geistes. Er wusste, dass Poe das sehr mochte.
»Wieso bist du nicht in der Windgasse?«
Der Zwerghamster strich sich mit den Vorderpfoten über seine Backen und ließ etwas in Roberts Hand fallen. Es sah aus wie ein zusammengeknülltes Stück Papier. Die kleinen Knopfaugen fixierten das Objekt, dann sahen sie zu ihm hoch, wartend.
Robert seufzte ergeben, setzte den Geist auf die Sofalehne und fummelte mit den Fingerspitzen das Papier auseinander. Es war größer, als er gedacht hatte. Er hatte vergessen, dass Hamster erstaunlich effektiv die Dinge, die sie fanden, auf die Größe ihrer Backentaschen zu stauchen vermochten. Dies war ein weiteres Rätsel, das er noch nicht ergründen konnte: Seine Clangeister waren fähig Dinge zu transportieren, die sie wirklich mit sich führen konnten. Schnappte sich also sein Poe irgendetwas, das mühelos in seine Backen passte, so wurde dieser Gegenstand ebenso zu einem Geist wie er selbst. Entließ er es dann, verwandelte es sich wieder zu dem, was es ursprünglich gewesen war, ein Teil der realen Welt. Nein, es war kein Rätsel, es war ein Labyrinth aus Rätseln.
Nach und nach entfaltete Robert einen rechteckigen Zettel, der mit geschwungenen Buchstaben beschrieben war. Er hielt ihn gegen die Flammen, damit er die Schrift besser entziffern konnte. Offensichtlich hatte jemand mit einem Kohlestift auf dem Rest einer fettbeschmierten Serviette gekritzelt. Hastig wirkten die Buchstaben, wie in großer Eile verfasst. Dort stand:
Verschwinden Sie von hier. Schnell!
Robert ließ den Zettel sinken. Seine Augen aber irrlichterten noch immer über die Kohlestriche. Kennst du das, wenn alles zur Last wird, aber das Herz dennoch wie wild schlägt? Leben und nicht leben können sich überschneiden? Wie verschiedene Wege auf denselben Berg. Er stellte diese Frage an sich selbst und fand keine Antwort, er hatte sie niemals gefunden.
»Der Zettel wurde unter der Tür hindurchgeschoben«, erklärte Poe, setzte sich und putzte sein Fell. Doch Robert blickte in die Flammen.
›Verschwinden Sie von hier. Schnell!‹
Ein Kompass und ein Deal
Der Sonnenaufgang hatte die Farbe goldroter Wunden. Das Blut der Sonne leckte aus dem Osten empor und sickerte in die dunklen Schleierwolken, die über den Himmel zogen. Vielleicht war das viele Rot darin kein gutes Omen, Anevay wusste es nicht zu deuten. Es war ein Anfang, nicht mehr und nicht weniger, so sollte sie es sehen.
Sie stand am Fenster eines kleines Zimmers im Nordturm, die Stirn an das kühle Glas gelehnt, war sie noch immer betäubt davon, welch unerwarteten Weg das Schicksal eingeschlagen hatte. Nebenan schlief Francesca, die Blume, wie Anevay sie getauft hatte. Selten hatte A jemanden mit solch aufrichtiger Herzensgüte kennengelernt. Es war schön und verwirrend zugleich. Wusste sie doch nicht, wie man auf so etwas angemessen antworten sollte. Doch Antworten schienen die dralle Schönheit ohnehin nicht sonderlich zu interessieren, denn sie fragte nicht, sie urteilte nicht, sie half ganz einfach nur.
Sie hatte Anevay das Bad eingelassen und Anevay hatte sich in ihrer zerschundenen Nacktheit aufgehoben gefühlt, hatte keine Scham empfunden, ganz anders als in Fallen Angels. Früher war das für sie Normalität gewesen. Die Stämme waren da ganz anders gestrickt.
Francesca hatte ihr den Körper geschrubbt, leise ein Lied dabei gesungen, während A in der Wanne stand und versuchte das laute Knurren ihres Magens unter Kontrolle zu bringen. Francesca war Portugiesin,
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