Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
Kälte verzogen, so dass Liesel es nur mit einiger Kraft zu einen Spalt aufziehen konnte, durch den sie sich hindurchzwängte.
Der Friedhof war ein großes Rechteck. Schon vor Jahrhunderten diente er der einfachen Bevölkerung als Stätte für ihre Toten. Er lag zwischen zwei Reihen von Mietshäusern da, wie die Lücke in einem düsteren Gebiss. Eine stetig höher wachsende Trockenmauer umgab das Geviert, das nur von wenigen flachen Hügeln durchsetzt war, denn die Armen konnten es sich nicht leisten, ihre Toten mit allen Ehren und Beigaben in einem Grabhügel beizusetzen. Fast alle waren ordentlich verbrannt worden und hier nun ruhte ihre Asche. Die wenigsten von ihnen hatten je die Möglichkeit bekommen sich einen Platz in Wallhall zu verdienen.
Neben dem Weg, der durch die vielen Obelisken und Stelen führte, stand eine Statue der Hel, die auf einem Thron aus Knochen saß, die Armlehnen aus Schädeln. Sie hielt ein Stundenglas in der einen Hand, die andere ruhte auf dem steinernern Kopf von Garm, ihrem finsteren Hund, der am Totenfluss Gjöll den Eingang zur Unterwelt bewachte.
Liesel hatte keine Angst vor Hel und auch nicht vor Garm. Der Tod war im Nordischen Feuerbund nicht das Ende des Weges. Wer ruhmreich und ehrenvoll starb, dem winkte auch im Nachleben ein gutes Dasein.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Liesel bahnte sich den Weg unter knorrige Eichen und Kiefern hindurch, die mit ihren schwarzen kahlen Fingern in den Himmel zu greifen schienen. Etwa in der Mitte und ein wenig am Rand zur Mauer hin, stand die Holzstelle ihres Vaters. Ein einfaches, eckiges, hüfthohes Eichenbrett, das mit Runen den Mann beschrieb, dessen Asche in dieser Erde ruhte.
Liesel befreite die Stelle vom Schnee, damit sie die Runen lesen konnte, die drauf geritzt waren. Jeden Tag kam einer der Bewohner hierher und tat dies, denn die Toten sollten im Winter nicht verloren gehen. Doch fiel zur Zeit einfach zuviel Schnee und so machte sie es selbst. Plötzlich hielt sie inne. Seit dem Überfall hatte sie einen sechsten Sinn bekommen, der ihr leise zuflüsterte, wenn jemand in ihrem Rücken umherschlich. Ständig dreht sie sich um, vor allem ihr Dienst im Atlantikhotel wurde auf diese Weise zu einem Kraftakt nur schwer zu unterdrückender Vorsicht. Doch nur einen Atemzug später entspannte sie sich, fuhr fort die Stelle vom Schnee zu befreien.
»Wie geht es Ihnen?« Die Stimme war leicht gedämpft und ein Spur tiefer als sonst. Liesel erhob sich, den Blick weiter auf das Grab gerichtet.
»Sie dürfen mich Liesel nennen, Night Captain . Wenn sich jemand dieses Recht erworben hat, dann sind Sie es!«
»Wie geht es Dir, Liesel?« Die junge Frau musste schmunzeln unter der dicken Wolle ihres Schals.
»Vielleicht sind Sie ja Grimnir, der Maskierte «, überlegte sie flüsternd.
»Odin mag viele Namen annehmen, wenn er unter den Menschen umherwandert und ihre Herzen prüft, jedoch habe ich noch beide Augen und recht gute dazu.«
Liesel war sich da nicht so sicher. Man erzählte sich auch, dass sein Geist sogar in Tiere fahren konnte. Doch sagte sie dies nicht laut.
»Ich wünschte, ich könnte zaubern«, sagte Liesel. »So wie Sie es vermögen.«
Der Night Captain kam lautlos näher, trat neben sie. Liesels Herz begann wild zu trommeln, ihr wurde ganz warm. Eine magische Macht wollte sich zu ihm umdrehen und ihn küssen, doch sie stierte nur auf das Grab ihres Vaters, unfähig sich zu rühren.
»Ich habe Sie nicht verraten«, sagte sie mit einem Zittern in der Kehle. ›Das würde ich niemals tun.‹
»Da war noch ein dritter Rabenmann, ich habe nur kurz mit ihm gekämpft. Aber er stank nach Fusel und Zwiebeln. Hilft dir das irgendwie?«
»Ja, das hilft mir. Danke, Sir.« Liesel wurde übel. ›Sven! Oh, bei den Göttern, was ging nur vor sich. Hatte sie einen Verräter in den Reihen der Nachtrose ?‹
Der Night Captain wandte sich zum Gehen.
»Eines noch … «
Der Schatten hielt inne.
»Sie sind ein guter Mensch, aber sie sollten vorsichtiger sein.«
Er neigte den Kopf, als Zeichen, dass er ihr mit allen Sinnen zuhörte.
»Sie riechen sehr gut, Sir Night Captain , ein wenig zu gut vielleicht. Fast könnte man glauben, Sie seien ein Lord.« Ihr Herz wummerte wild. Sie wollte nicht, dass er ging. ›Doch was wollte sie dann?‹
Die Silhouette des Mannes nickte dankend, dann verschwand er lautlos hinter einem Baum und war nur einen Moment später wie vom Erdboden verschluckt.
Noch immer kribbelten ihre Finger,
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