Das Limonenhaus
suchten. Wir liefen bis zum Eingang des Friedhofs, immer lauter rufend. Ich spürte, wie die Angst in meinem Hals klopfte, wie sie in meiner Stimme über die Grabsteine hallte. War Matilde einfach nur weitergelaufen und hatte sich verirrt? Hatte sie einer dieser Kinderschänder weggelockt, von denen man in der Zeitung immer las? Mir war eiskalt. Meine Beine waren kraftlos vor Schreck und rannten trotzdem weiter.
»Dio santo«, betete ich, »alles andere ist mir egal. Ich verzichte hundertmal auf Phil, auf alles, nimm mir, was du willst, nur gib mir Matilde wieder! Lass sie dort sitzen, da um die Ecke, hier hinter dieser Wand. Bitte!«
Aber sie war nirgends, vor der ersten Gräberwand nicht, nicht hinter der zweiten, dritten Wand und dennoch musste sie irgendwo sein!
»Matilde!?« Als ich die Tür der Toilette mit einem heftigen Ruck aufstieß, konnte ich Phils Rufen wie ein Echo hinten bei den Hallen hören: »Matilde!?«
»Dio«, betete ich wieder, »lass sie einfach nur Verstecken mit uns spielen!« Doch die Toilette war leer. Es gab überhaupt keine Möglichkeit, sich hier zwischen unverputzten Wänden und der einzigen Kloschüssel zu verstecken.
»Lella! Ich hab sie!!«
Nie in meinem Leben bin ich schneller aus einer Toilette gelaufen. Da waren sie, Hand in Hand kamen sie mir entgegen. Ich fiel auf die Knie und drückte Matilde an mich.
»Warum weinst du?«
»Ich dachte, du wärst verloren gegangen!«
»War ich aber gar nicht!«
Ich konnte nur nicken.
»Ich bleibe doch jetzt immer bei dir. Das will ich nämlich.«
Ich wollte ihr mit meinen Tränen keine Angst einjagen, deswegen stand ich auf und sagte mit fester Stimme: »Natürlich bleibst du jetzt für immer bei mir! Und ich wette, du weißt nicht mehr, wo unser Auto steht.«
Matilde fasste meine Hand und führte mich den Weg hinunter zum Parkplatz. Ich übersah Phils versteinertes Lächeln. Wir stiegen ins Auto. Während ich Matilde anschnallte, merkte ich, dass meine Hände immer noch leicht zitterten.
»Matilde«, begann ich, »wenn du wirklich mal verloren gehst, dann bleib stehen, wo du gerade bist. Verstehst du? Ich komme dahin, wo du stehst, und hole dich ab. Immer! Okay?« Sie nickte und sah mich mit leuchtenden Augen an, als hätte ich ihr gerade ein lustiges Spiel vorgeschlagen.
Ich stieg auf der Beifahrerseite ein und schnallte mich an.
Phil fuhr schweigend los, nach ein paar Metern hielt er an und stellte den Motor aus.
»Ich bin völlig durcheinander. Ich werde heute Nacht nach Hause fliegen. Nach Hause...« Er atmete laut aus, als ob einem Reifen die Luft entweicht. »Ich bin ein, entschuldige bitte, Riesenidiot, dass ich dich jetzt mit Matilde alleine lasse«, sagte er, »aber natürlich fahre ich euch nach Bagheria. Also, wenn du willst.«
»Ja, ich will«, antwortete ich ihm. Er startete den Wagen erneut, erst Minuten später, als wir den Berg hinunterrollten und Pozzo hinter uns lag, merkte ich, dass diese Antwort immer noch feierlich zwischen uns stand. Aber sie war falsch, sie gehörte an einen anderen Ort. Wir gehörten an einen anderen Ort.
Wir? Das Zusammenleben unserer kleinen Pseudofamilie hatte nie eine Zukunft gehabt, eine Wahnvorstellung meines Kopfes, nichts anderes. Ich trommelte mit dem Absatz auf die Matte, die im Fußraum lag, und schaute unbemerkt hinüber zu Phil. Er flog heute Nacht nach Hause. Schon jetzt war er unerreichbar, weit weg von mir, nicht mehr in der sizilianischen Welt. Er sollte mich und Matilde nur noch schnell in die Kanzlei fahren. Ich wollte ihn nicht mehr anschauen müssen, wollte seinen Geruch nicht mehr in der Nase haben. Bald würde ich Claudios Eierkopf und den undurchsichtig grinsenden Acquabollente senior wiedersehen. Das war schon mehr, als ich ertragen konnte. Nur die Aussicht auf offizielle Papiere für Matilde konnten die Tränen in mir zurückhalten. In einem Dorf hielt Phil vor einem kleinen Supermarkt an, um Wasser zu kaufen. Er brachte eine Rolle Schokoladenkekse für Matilde mit. Sie bedankte sich artig bei ihm, und wir fuhren weiter, nur das Knistern und Rascheln von der Rückbank untermalte unser großes Schweigen. Nach einer Weile drehte ich mich zu Matilde
um. Sie hatte die Kekse akkurat, einen neben dem anderen auf ihren Beinen und den Armstützen des Kindersitzes angeordnet.
»Guarda!«, sie hob einen der Kekse hoch, »der Prinz hier lacht, und der da auch, aber nicht so lustig und diese beiden gucken traurig.«
Erstaunt nahm ich die runden Taler genauer in
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