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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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Bibel durch, sie klebten wellig aneinander. Vorsichtig löste ich sie, indem ich sie über Kopf hielt und sanft ausschüttelte. Geh duschen, sagte ich mir erneut, und lass das Ding hier liegen. In einer Ecke der Küche raschelte es, vor Schreck fiel mir die Bibel aus der Hand. Ich spürte, wie sich meine Nackenhärchen aufrichteten. Man schmeißt mit der Heiligen Schrift nicht nach Ratten, dachte ich, und hob das Buch vom Boden auf. Mehrere Papiere waren aus den Bibelseiten hervorgerutscht. Ich faltete sie auseinander und hielt sie in das spärliche Licht, das immer noch durch die Flügeltüren fiel. Es waren herausgerissene linierte Heftseiten, sie waren beschrieben,
ganz dünn, mit einem sehr harten Bleistift. Ich begann zu lesen:
    16. März
    Maria singi und pfeift immerzu, sie läuft herein und heraus und macht mich ganz irr. Wenn sie nicht singt oder summt, träumt sie lächelnd vor sich hin - sie steht mit dem Lappen in der Hand am Fenster, und wenn ich sie nicht ermahnen würde, würden wir nie fertig mit dem Putzen. Meine Schwester hat noch immer nicht zurückgeschrieben. Interessiert sie sich nicht mehr für ihre Drittgeborene? Maria hat ihr zum Namenstag ein Kärtchen geschickt Das vergisst sie nie, meine Mariuccia.
    17. März
    Bis eben war Maria so glücklich, gestern hat sie endlich den Mut gehabt, mir von ihrem heimlichen Schatz zu erzählen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich es schon lange weiß! Nun aber ist sie völlig aufgelöst, Finú hat sich an der Hand verletzt Die Leute sagen, er habe sich den kleinen Finger fast amputiert, er hänge angeblich nur noch an einem Faden aus Nervengewebe und Haut. Finú soll sich weigern, zum Arzt zu gehen. Maria wollte sofort zu ihm, aber ich habe es ihr verboten. Sie sind noch nicht offiziell verlobt, man wird schlecht über sie reden. Seitdem schmollt sie und ist böse auf mich. Den Finger wird Finú sicher verlieren, aber seine Arbeit wird er auch mit neun Fingern verrichten können. Er ist begabt und versteht sich drauf. Er wird das Geschäft seines Onkels bestimmt einmal erben, der fleißige Junge!
    19. März
    Konnte gestern nicht schreiben, denn ich ahnte es. Habe sie draußen gesucht, die Leute auf dem Platz gefragt, wo schon die Buden für das Fest aufgebaut wurde Ich saß bis nachts draußen vor der Tür, in eine Decke gewickelt, es war kali.
    Ab hier waren die Zeilen nicht mehr lesbar, die Feuchtigkeit hatte die Buchstaben aufgelöst. Ich sah auf. Die Ecken des Zimmers waren mit Dunkelheit gefüllt. Meine Mutter hatte gesungen, gesummt und gepfiffen? Hier in diesem Haus? Ich konnte sie mir nicht dabei vorstellen. »Finú?«, flüsterte ich in die Stille. Ich hatte den Namen noch nie gehört. »Finú!« War meine Mutter vor meinem Vater mit einem anderen verlobt gewesen? Und auf wen hatte die Zia Pina dann gewartet, in der Nacht zum 19. März? Auf meine Mutter? Ich blätterte die Heftseiten durch, doch die Bleistiftbuchstaben waren verschwommen. Ich würde eine starke Lampe brauchen, um noch etwas erkennen zu können. Erstaunt stellte ich fest, dass meine Finger zitterten, als ich die Seiten in die Bibel legte. Ich wischte den Umschlag sorgfältig mit der Hand ab und verließ das stockdunkle Haus.

Kapitel 9
    PHIL
    Taxifahrer Mario wollte oder konnte mit dem Auto nicht bis zum Hotel vordringen.
    »Destra, a destra«, er wies mit dem Finger in die engen Gassen. Ich lief verwirrt los, die schmalen Straßen wurden noch schmaler. Ich befand mich in irgendeinem Altstadtviertel, tief in den Innereien der Stadt, und es stank bestimmt nach irgendwas. Siziliens Licht hatte mir schon bei der Ankunft den Atem genommen, aber Palermos Gassen saugten nun die letzte Kraft aus mir. Überall lungerten die Menschen ohne ersichtlichen Grund herum, warteten sie vielleicht auf mich, wollten sie mich ausrauben? Das lärmende Rollen meines Koffers hallte von den Hauswänden wider und machte noch weitere Bewohner auf mich aufmerksam. Ein Pulk kleiner Jungs bemerkte das Stativ in meiner Hand: »Foto, foto!«, schrien sie und schubsten sich gegenseitig vor meine Füße. Marktstände verstellten mir den Weg, Plastikspielzeug und rosa-schwarze Fußballtrikots schaukelten herab und streiften mein Gesicht. Waren es Werkstätten? Was, um Himmels willen, wurde in den dunklen tiefen Gewölben hinter zur Hälfte heruntergelassenen Metallrollos getrieben? Und was hatte es mit den alten Männern auf sich, die auf Stühlen
an der Mauern entlang saßen, ihre groben Hände auf Stöcke

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