Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
Vom Netzwerk:
gestützt? Ich sah knotige Gelenke, Altersflecken, Narben. Solche Hände sollte man mit hohem Kontrast, auf hartem Barytpapier, Stärke 5, besser 6, abziehen, dachte ich und kämpfte mich weiter voran. Oben, an den Mauern, neben eingemeißelten Straßennamen, Stromkabeln und verblichenen Reklameschildern hingen absonderliche Altäre, hinter gesprungenem Glas blinkten Glühbirnen, leuchteten rote Grablichter vor sich hin, standen verwelkte Blumen in Marmeladengläsern vor Madonnenbildern. Ich kam an Barockkirchen vorbei, die von bröckelnden Palazzi erdrückt wurden, und unter den Planen der Baugerüste sah ich den Müll, den der Wind dort zusammengetragen hatte. Du bist hier fremd, fremd, fremd und nicht willkommen, rief mir alles entgegen. Ich muss hier auch nicht willkommen sein, erwiderte ich und versuchte, mich ebenso lässig und erhaben zu fühlen, wie ich in Brigidas Augen schon lange war.

Kapitel 10
    LELLA
    In meinem Zimmer legte ich die kleine Bibel auf den Nachttisch und ließ mich auf das Bett fallen. Wer hat das Limonenhaus ausräumen lassen? Wer hat unsere Vergangenheit so radikal weggetragen und gelöscht, Leonardo?
    Finde es heraus!
    »Du hast gut reden, du hast doch länger als ich hier gelebt, Leonardo!«
    Ich stand wieder auf, zog ein paar Schleifen zwischen Bett und Fenster und näherte mich dann dem Nachttisch. Die Heilige Schrift verströmte einen leichten, doch nicht unangenehmen Geruch, nach feuchtem Papier. Endlich schlug ich sie auf, holte die drei losen Blätter hervor und überflog noch einmal die wenigen leserlichen Zeilen von Zia Pina. Ich ließ die Seiten auf meine Knie sinken. Wer war meine Mutter? Das Mädchen, das durch das Haus wirbelte, bis die Tante ganz irre wurde, hatte nichts mit ihr gemeinsam und war doch dieselbe Person.
    Als kleines Mädchen hatte ich Mamma Maria heimlich beobachtet, um herauszubekommen, über was sie brütete, warum sie kaum sprach. Ich wollte sie zum Lachen bringen, aber mehr als ein dünnes Lächeln hatte ich bei ihr nie
erreichen können. Sie funktionierte zwar, doch sie tat alles schweigend, man konnte leicht vergessen, dass sie überhaupt da war.
    Ich hasste Mamma Maria nicht, aber liebte ich sie? Vielleicht konnte man es eher Nachsicht nennen, was ich in den letzten Jahren für sie empfand. Ich sah sie vor mir, wie ich sie heute Morgen zum letzten Mal gesehen hatte. Auf dem Boden hockend, den Wischeimer vor sich, mit einem kleinen Schwamm die Fußleisten abschrubbend. Immerzu putzte sie, sauber war es bei uns, keine Frage.
    »Mamma, ich muss für ein, zwei Tage weg«, hatte ich nur erklärt. »Mach dir deswegen bitte keine Sorgen«, war mir noch hinterhergerutscht. Mamma Maria nickte.
    »Ist was passiert?«, hatte sie im sizilianischen Dialekt gefragt.
    »Nein, es ist nichts passiert, nur eine Chorprobe, wir haben doch nächste Woche diesen Auftritt.«
    Auf einmal war ich froh, dass ich sie noch kurz umarmt hatte, bevor ich ging.
    Was war passiert, wo war ihre einstige Lebenslust geblieben, woher kam ihre Ängstlichkeit, mit der sie mich als heranwachsendes Mädchen an allem zu hindern versuchte, was Spaß machte? Bei der Freundin übernachten? Nein. Ausgehen? Nein. Freundinnen mitbringen? Das wollte ich sowieso nicht.
    Irgendwie hatte ich immer gespürt, dass mein Elternhaus nicht vorzeigbar war. Mich mit meinen Klassenkameradinnen zu vergleichen kam mir nicht in den Sinn. Mit deutschen Vätern konnte man diskutieren und streiten, man konnte bei ihnen um Fahrstunden und erste Autos betteln. Man durfte androhen, so schnell wie möglich von zu Hause
ausziehen zu wollen, und konnte so lange herummaulen, bis ein Junge bei einem übernachten durfte. Aber als Tochter eines sizilianischen Vaters? Ich musste gar nicht fragen, Papa Salvatore hätte all das nicht zugelassen. Einen festen Freund haben? Undenkbar für mich. Schon als ich zehn Jahre alt war, hatte mein Vater mir mit seinen Andeutungen von Anstand und gutem Ruf in den Ohren gelegen, von der Ehre und dem Wichtigsten, was eine Frau nicht leichtfertig weggeben durfte. Natürlich habe ich damals gar nicht verstanden, was er mit dem Wichtigsten überhaupt meinte. Ich schüttelte den Kopf.
    Das leer geräumte Limonenhaus, meine singende Mutter und wer war dieser Finü? Es ließ mir keine Ruhe, und obwohl es schon nach zehn war, schlüpfte ich in meine hohen Schuhe und stieg die Treppen hinunter. Ich verharrte vor dem Perlenvorhang, der als Sichtschutz vor aufdringlichen Pensionsgästen über der Tür der

Weitere Kostenlose Bücher