Das Loch in der Schwarte
Alicia Spanner gehört hatte, die mitgefahren war, um die Reise zu dokumentieren. Ihre Ausrüstung befand sich noch in einer Kabine, doch alle Filme waren verschwunden. Bei näherer Untersuchung konnte man feststellen, dass der Zehennagel mit einem Werkzeug, vermutlich einer Flachzange, herausgezogen worden war.
Was den Vermissten genau zugestoßen war, kam niemals an die Öffentlichkeit. Der Rest der Besatzung saß schweigend in den Verhören oder plapperte in psychoseähnlichem Zustand ununterbrochen vor sich hin. Der Durchbruch gelang erst, als man Alicia Spanners Filme fand. Sie hatte sie geschickterweise in einem Lüftungsschacht versteckt und unglaublicherweise die Kraft besessen, während der brutalen Folterung das Versteck nicht zu verraten. Die wenigen, die die Filme sehen durften, waren anschließend ungemein schockiert. Die Übergriffe, die Alicia mit ihrer versteckten Kamera dokumentiert hatte, bevor sie enttarnt worden war, waren so bestialisch, dass das gesamte Material augenblicklich als geheim erklärt wurde. In dem Prozess, zu dem es schließlich kam, wurden alle Überlebenden der Besatzung wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt.
Der Fehler bestand zu Beginn des Raumfahrtalters darin, dass die Bonzen sich in zu viele Dinge einmischten. Irgendwelche Häuptlinge und Gernegroße wollten bestimmen, wie das Schiff gelenkt werden sollte. So bauten sie alle Konflikte, die es auf der Erde gab, fröhlich in den Aufbau der Besatzung ein. Es gab an allen Ecken und Enden Befehlshierarchien, peinlich genaue Disziplinregeln, Weck- und Grußvorschriften und kleinliche Drohungen mit Lohnabzug, es gab Zuckerbrot und Peitsche, Stempeluhr und Überwachungskameras, Gemecker, Ermahnungen und Strafen.
Doch eine Sache vergaßen sie. Sie vergaßen, dass wir hinaus ins Weltall wollten. Dorthin, wo uns niemand von der Erde erreichen konnte. Sie versuchten die Kontrolle zu behalten, aber wir schnitten einfach ein Gummiband nach dem anderen durch.
Ohne große Worte führten wir Roader eine Revolution durch. Wir waren ganz einfach dazu gezwungen, dieses alte Erdenverhalten funktionierte da draußen nicht. Wir mussten nicht mehr unsere Akkerkrumen oder Reviere verteidigen. Keine Kriege mehr um Grenzpfähle. Wir mussten stattdessen lernen, auf engstem Raum miteinander zu leben, Seite an Seite, und zwar friedlich.
Auf diese Art und Weise wuchs die Roaderkultur heran. Hätten wir uns wie auf der Erde benommen, wäre die Fahrt für uns alle zur Hölle geworden. Deshalb begannen wir ohne große Umschweife zu experimentieren, zu versuchen, auf neue Art und Weise miteinander umzugehen. Die Worte der Roader verbreiteten sich wie ein Lauffeuer unter den Besatzungen. Nach Fernfahrten dort draußen sah man das Erdenleben mit neuen Augen. Diese ganze alte Eingeschränktheit. Die Gewalt. Die Arschleckerei. Plötzlich stellte man fest, dass man etwas Eigenes gefunden hatte. Eine Roaderhaltung, eine neue Art, Mensch zu sein. Es handelte sich dabei um Stolz. Im Weltraum kannten wir uns nun einmal am besten aus.
Daraus wurde das Roadermanifest geboren. Das Klügste, was jemals über das Leben im Weltall gesagt wurde. Es existieren verschiedene Varianten des Manifests, aber alle bauen auf der gleichen Grundlage auf.
Das Roadermanifest lautet folgendermaßen:
1. Es gibt kein Roadermanifest.
Hörst du nicht, du Dummkopf, es gibt kein Roadermanifest.
Wie oft soll ich das noch wiederholen, es gibt kein Roadermanifest. Und wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du zu Hause bleiben und grüne Bohnen züchten!
(Grüne Bohnen werden manchmal durch anderes Gemüse ersetzt, was in den verschiedenen Gegenden der Welt halt eher passt. Blumenkohl ist ziemlich üblich. Oder Futterrüben. Oder für einige Afrikaner Pavianhirse.)
Das Manifest der Roader gibt es also, doch die Botschaft besagt, dass es kein Roadermanifest gibt. Der reine Zenbuddhismus, wie man meinen möchte. Aber die Ursache ist klar: Wenn es ein Roadermanifest gäbe, würden die Erdenautoritäten sich dazu verhalten und anfangen zu verbieten, zu bestrafen, zu fordern, ihm abzuschwören und so weiter. Mittels des Roadermanifests zeigt man den Erdlingen die lange Nase. Wir sind frei. Ihr habt uns nichts zu sagen.
Es gibt also kein Manifest. Aber sobald man die Ozonschicht hinter sich lässt, tritt es in Kraft. Das ist für einen Anfänger in der Besatzung verwirrend, es ist, als bliese plötzlich ein warmer Wind durch die Sektionen. Die Wangen der Besatzungsmitglieder werden
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