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Das Loch in der Schwarte

Das Loch in der Schwarte

Titel: Das Loch in der Schwarte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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aufwachten, waren sie noch aufgedrehter. Doch dieses Mal zwang die Leitung von Rutvik sie zur Gymnastik. Keuchend begannen sie wieder Kraft in die erschlafften Muskeln zu pumpen. Die untrainierten Glieder schmerzten, obwohl sie in der Massagewiege bearbeitet worden waren, es war unvermeidlich, dass man einen Teil der Muskelmasse verlor. Alle von Oz hassten das. Physische Aktivität war etwas Minderwertiges und Unwürdiges. Es war zu alltäglich, ihm fehlte die Farbe.
    »Wollen wir wieder reisen?«, fragte Adrienne.
    Alle bekamen glasige Augen.
    »Noch dreimal Seilspringen«, ermahnte die behaarte Gymnastiklehrerin.
    Und hier, in dem verschwitzten Rutviksgymnastikraum, da wurde die Idee zum Extremspiel geboren. Zwischen curls und push-downs fantasierten die Oz-Mitglieder darüber, weiterzugehen. Über eine neue Art von Spiel, das ihre gesamte Existenz verändern würde. Das Monate, vielleicht Jahre dauern könnte. Der Gedanke war sicher schon anderen Spielern zu früheren Zeiten gekommen, aber bis jetzt hatten sich die Juristen der Gesellschaft dagegen gewehrt. Adrienne löste das Problem, indem sie sich mit einem ansehnlichen Teil ihres Erbes als Teilhaberin in Rutvik einkaufte. Anschließend ließ sie den allerinnersten Raum schaffen, zu dem kein Außenstehender Zugang hatte.
    Die Freunde von Oz wurden die erste Extrembesatzung. Sie suchten sich eine neue Plattform mit Namen Nirwana aus, mit naturschönen Spielmilieus, inspiriert vom Himalaya: schneefunkelnde Bergkuppen, Gurus und Eremiten, heilige Ashrams und steile Gebirgswiesen mit nektarschweren Berglilien und fleischrotem Rhododendron. Sie unterschrieben alle ein Papier, das die Gesellschaft jedweder juristischen Verantwortung enthob. Die Spieldauer wurde auf mindestens zwei Jahre festgelegt.
    Nach gut neun Monaten bekam Hector, ein französischlibanesischer Jüngling in der Oz-Besatzung, eine sich schnell verschlimmernde Halsentzündung. Die Rutvikärzte konstatierten eine Lungenentzündung. Eine Antibiotikakur schien keinen Effekt zu haben, und nach Beratungen mit der Leitung wurde beschlossen, dass sowohl er als auch der Rest der Gruppe geweckt werden sollten.
    Es waren menschliche Wracks, die da zum Vorschein kamen. Die Massagewiegen hatten leider klare Mängel, beispielsweise war es nicht gelungen, die Halsmuskulatur ausreichend zu stimulieren. Keiner von der Oz-Besatzung konnte deshalb an den ersten Tagen seinen Kopf gerade halten, geschweige denn sprechen oder überhaupt die Kiefer bewegen. Wie große Baumäste lagen sie in ihren Betten, an den Respirator angeschlossen, während Krankengymnasten sie massierten und dehnten. Doch in den Augen war etwas Neues zu sehen. Eine Art Lüsternheit, eine glänzende Innerlichkeit. Eine erhabenere Farbe.
    Erst nach einer Woche konnten sich alle hinsetzen. Mit ihren schmerzenden Spargelarmen stocherten sie in der Nudelsuppe, während das Darmpaket knurrend zu arbeiten begann und Gase entweichen ließ. Die ganze Kantine wurde von einem zwiebelriechenden Odeur ausgefüllt, und mitten in diesem Stallgeruch saßen sie und berichteten.
    Sie erzählten alle die gleiche Geschichte. Sie hatten anstrengende Pilgerreisen über verschneite Pässe durchgeführt, sie hatten in tausend Formen gegen die Versuchung angekämpft und auf vom Wind geschliffenen Bergkuppen meditiert. Aber zum Schluss hatten sie die endgültige Befreiung, das moksha, erreicht. Die Pforte hatte sich zu einem höheren Niveau geöffnet. Und als sie durch die Öffnung geschritten waren, hatten sie alle gefühlt, wie die Wurzel ihres Herzens berührt wurde. Das Himmelreich. Hier wollen wir bleiben.
    Die Ärzte standen um sie herum, gemartert von den Ausdünstungen, aber nicht in der Lage, ihre Patienten zu verlassen. Da war etwas mit ihren Augen. Sie hatten etwas gesehen, das die Pupillen vergrößerte.
    »Ihr glaubt also, ihr seid dort gewesen?«
    »Ja.«
    »Im Himmel selbst?«
    »Genau dort.«
    »Aber dann muss… wie soll man … wie sieht es denn da sozusagen aus…?«
    Alle von Oz schauten die Ärztin verwundert an, die diese Frage gestellt hatte, schätzten sie geradezu mit dem Blick ab.
    »Das lässt sich nicht sagen.« Darüber waren sie sich einig. Der Himmel ist der Himmel. Es gibt nichts, von dem behauptet werden könnte, es sähe ähnlich aus.
    »Nichts…?«
    Nein, nichts. Und sobald wie möglich wollte man wieder zurück dorthin. Sobald es irgendwie möglich war. Es stand fest, dass man äußerst unzufrieden damit war, geweckt worden zu sein. Man

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