Das Loch in der Schwarte
sie fortgleiten.
Am nächsten Tag erwachte György.
Und zwar in letzter Minute. Seinen Eltern waren gerade fünfzig Millionen Dollar Schadensersatz zugesprochen worden, und sein Körper sollte vom Respirator abgekoppelt und zur Erde transportiert werden, ins Krematorium. Da bekam György ein Auge einen Spalt weit auf und ließ ein zischendes Geräusch vernehmen.
Der Schock war unfassbar. György war plötzlich von den Toten auferstanden. Auferstanden war an und für sich ein falscher Begriff, denn genau wie Adrienne war György in einem jämmerlichen Zustand und musste mit dem gleichen, sich lang dahinziehenden, schmerzhaften Krankengymnastikprogramm beginnen. Als er schließlich wieder in der Lage war zu sprechen, wurde sein Lager von Angehörigen und Krankenhauspersonal umringt. György sah mitgenommen aus. Es hatte ihm nie besonders gefallen, im Mittelpunkt zu stehen. Die Leute ermahnten sich gegenseitig zum Schweigen, um sein fast unhörbares Gemurmel verstehen zu können.
»Angeschmiert, mit Butter lackiert«, presste er hervor.
»Was?«
»Das ging den Bach runter …«
Anschließend folgte eine Reihe merkwürdiger Worte, die sich laut Übersetzung durch die Angehörigen als derbe ungarische Flüche herausstellten.
»György, hör zu … du bist mehr als acht Jahre weg gewesen.«
Er hielt einen Moment lang inne. Fing dann wieder an zu fluchen. Schaum zeigte sich in seinen Mundwinkeln.
»Erzähl uns, wie du losgekommen bist. War es Adrienne, die dich herausgelassen hat?«
»György ist nicht nach Hause gekommen«, antwortete er. »György ist immer noch dort.«
»Äh … ja, dann … Wer bist du dann?«
Er starrte in die Runde, schnippte mit seinen ledernen Fingerspitzen in die Luft.
»Ich bin der Tod«, erklärte er mürrisch. »Ich durfte nicht dort bleiben. Jetzt, wo der Himmel fertig ist.«
Die Reaktionen in der Spielwelt waren heftig. Doch nicht in der Art, wie man es hätte erwarten können. Statt abgeschreckt zu werden, wurde das Rutviker Reisebüro von reiselustigen Spielern überschwemmt, die diesen besagten Himmel liebend gern besuchen wollten. Einige waren einfach nur neugierig. Andere waren religiös eingestellt und wollten das vollendete Paradies erleben. Eine dritte Gruppe bestand aus todkranken Personen, wie beispielsweise Krebspatienten im letzten Stadium. Sie hofften, im Laufe des Spiels dahinscheiden zu können und auf diese Art und Weise hoffentlich ein ewiges Leben in Rutviks Himmelreich zu erlangen.
Die Firmenleitung konnte nicht länger leugnen, dass es das Ewigkeitsspiel gab. Aber wie sollte man damit umgehen? Nach der bis dato längsten Konferenz trat man schaudernd vor die wartende Weltpresse. Der Vorsitzende verlas ein Kommunique:
Das Spiel Nirwana existiert, was hiermit offiziell bestätigt wird.
Das Spiel wird von diesem Moment an als für die Öffentlichkeit offen deklariert.
Die Teilnahme an diesem Spiel geschieht auf eigenes Risiko. Es kann keine Rückkehr garantiert werden, der Teilnehmer kann möglicherweise den Rest seines Lebens in diesem Spiel bleiben.
Die Eintrittskarte zu diesem Spiel kostet einhundert Millionen Dollar.
Ich bin einer der wenigen, die den allerinnersten Raum gesehen haben. Es geschah, nachdem ich Eva kennen gelernt hatte, eine Krankenschwester, die oben in Rutvik in der Dialyse arbeitete. Einmal nahm ich den Shuttle zu ihr hoch und gab an, ich wäre ein normaler Spieler. In einem unbewachten Moment schmuggelte sie mich hinein.
Und ich bekam sie zu sehen. Wie Schatten in dem blauen Dämmerungslicht in dem allerinnersten Raum. Sie schwebten in ihren Wiegen auf hautwarmen Luftkissen.
Mitten unter ihnen lag Adrienne. Der Körper kaum mehr als ein Knochenhaufen, überzogen mit einer grauen Haut. Die Muskeln waren schon seit langem verdorrt, die scharfen Spitzen des Beckens stachen hervor. Der Unterkiefer war festgeklebt, damit er nicht hinunterfiel. Kabel schlängelten sich zu glänzenden, festgezurrten Sensoren. Ein Herz schlug grün auf einem Bildschirm. Pick… pick… pick… Der Respirator pumpte mit zischenden Bälgern.
Ich schaute auf das Namensschild. Las das Geburtsdatum. Sie war 85 Jahre alt geworden.
Neben ihr lag noch ein Wesen. Und noch eins. Und noch mehrere. Reihen um Reihen unbeweglicher Körper. Ich zählte schnell über hundert Stück. Alle auf dem Rücken liegend, alle an den biochemischen, ovalen Glastank in der Mitte angeschlossen. Darinnen in der Nährlösung wimmelten die binären Bakterien herum.
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