Das Locken der Sirene (German Edition)
streifte das andere Armband ab und hielt ihr den Arm ebenfalls hin. Dort befand sich eine ähnliche Narbe mit Nähten. Die Wunden schienen vollständig verheilt zu sein. Da sie einiges über Narben wusste, vermutete sie, dass sein Selbstmordversuch inzwischen gut ein Jahr her war.
„Warum?“, fragte sie.
„Mein Vater, er hat mich erwischt …“ Er atmete tief durch. „Ich hatte Sachen in meinem Zimmer, und die hat er gefunden. Er sah die Prellungen und die Verbrennungen. Er sagte, er weigere sich, einen Perversling als Sohn zu haben. Einige Monate später hat er uns verlassen. Meine Mom … Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe.“
„Das ist nicht deine Schuld“, versicherte Nora ihm. „Dein Vater ist der Perverse, nicht du. Und er ist aus ganz anderen Gründen gegangen. Mein Vater hat meine Mutter und mich auch verlassen.“
„Ich weiß. Das hat mir Father S. auch erzählt. Er sagte, wir zwei hätten eine Menge gemeinsam. Ich konnte es nicht glauben, als er mir erzählt hat, dass er Sie kennt.“
„Du wusstest, wer ich bin, bevor er dir von mir erzählt hat?“
„Ja“, sagte er und wurde rot. „Ich habe Ihre Bücher gelesen.“
Nora fuhr mit den Händen an den Unterarmen des Jungen auf und ab. Sie zeichnete die Narben mit den Fingerspitzen nach.
„Er hat gesagt, wenn ich es ein ganzes Jahr lang schaffe, mir nicht wehzutun, dürfe ich Sie kennenlernen“, flüsterte er. „Das war das Einzige, was mich davon abhielt, es ein zweites Mal zu versuchen.“
Noras Herz wurde schwer. Sie hasste es, wie sehr Sørens außergewöhnliche Güte es schaffte, sie in einem einzigen Atemzug die achtzehn Jahre ihrer Liebe zu ihm spüren zu lassen. Sie schaute hoch und erwiderte den Blick des Jungen. Seine Augen schimmerten wie poliertes Silber. Die Pupillen waren geweitet.
„Wie heißt du?“, fragte sie.
„Michael.“
„Michael – so hieß Gottes Erzengel. Michael, hat dir schon mal jemand gesagt, wie schön du bist?“
Er wurde rot und schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Das bist du aber, Engelchen.“ Nora streckte die Hand aus und ließ die Finger durch sein langes schwarzes Haar fahren. Michael seufzte verzückt und schloss die Augen. Er öffnete sie erst, als Nora die Hand zurückzog.
Irgendwo weit hinten in ihrem Verstand wusste Nora, dass Zach im Club mit Søren allein war, aber um nichts in der Welt wollte sie es mit diesem verängstigten Jungen überstürzen. Sie wusste, sie sollte nicht hier sein, hätte Zach nicht Sørens Gnade ausliefern dürfen. Aber sie erinnerte sich, wie Søren sie damals vor einem Leben voller Schmerz und Elend bewahrt hatte, indem er ihr erklärte, was sie war. Was sie sein konnte. Sie war nie versucht gewesen, sich umzubringen, aber sie konnte nicht leugnen, dass Søren ihr ein- oder zweimal das Leben gerettet hatte. Nora schaute Michael an und sagte sich, dass es ihre Pflicht war, ihm auf jede nur erdenkliche Weise zu helfen.
„Michael, ich werde dir heute Nacht deine Jungfräulichkeit nehmen.“
Wenn sie noch irgendwo im Hinterkopf gezweifelt hatte, ob der Junge nicht noch zu zerbrechlich war, zu jung – dann zerstoben diese Zweifel, als er ihren Blick ohne Blinzeln und ohne das geringste Anzeichen von Furcht erwiderte. „Father S. hat mir schon gesagt, dass Sie das tun werden.“
Noras Priester erwies sich als ein ziemlich schweigsamer Führer. Zach hatte den Eindruck, Søren erwarte von ihm, als Erster das Wort zu ergreifen. Er schien ihn auf die Probe zu stellen, wie lange er den Mund halten konnte. Den Trick hatte Nora offensichtlich von ihm gelernt. Zach folgte ihm durch die Tür und einige lange Flure und Korridore entlang. Obwohl Søren nichts sagte, gingen sie nicht in Stille. Viele der Türen zu den Fluren standen offen, und Zach konnte sehen, was in den einzelnen Zimmern passierte. Sie kamen an einer Tür vorbei, die verschlossen war, und Zach hörte eine Frau schreien. Er blieb stehen, unsicher, was er tun sollte. Doch Søren, der den Schrei ebenfalls gehört haben musste, ging weiter, als sei so ein Laut hier vollkommen normal und nichts, was seine Aufmerksamkeit weckte. Was vermutlich auch stimmte.
Sie bogen um die nächste Ecke.
„Ich weiß, was Sie versuchen“, sagte Zach schließlich. „Sie wollen mich mit dieser persönlichen Führung durch die Hölle einschüchtern. Nora hat mir bereits erzählt, dass sie eine Domina ist. Sie hat mir alles erzählt. Ich weiß, Sie möchten mich verschrecken, damit ich sie in Ruhe lasse. Doch das wird
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