Das Locken der Sirene (German Edition)
von Kingsleys bestem Merlot.
„Jener sehr bedeutende Gentleman aus New York hat wieder angerufen. Er sagt, er überdenke seine Entscheidung noch mal, wenn du deine Meinung änderst.“
„Hat er etwa vorgeschlagen, das Angebot zu erhöhen?“ Nora hasste Senator Palmer. Er war ein Republikaner, der Werte wie die Familie sehr hochhielt, doch bei Nacht verwandelte er sich in einen Perversen und SM-Fanatiker. Wenn ihre Arbeit zu schwierig wurde, konzentrierte sie sich auf das Geld. Sie würde niemals die Verzweiflung vergessen, die sie vor fünf Jahren zu Kingsley gebracht hatte. Schon vor langer Zeit hatte sie begriffen, dass man sich Glück nicht kaufen konnte. Aber Geld ermöglichte es einem, sich ein Dach über dem Kopf zu kaufen. Das war mehr, als sie besessen hatte, als sie den Job damals angenommen hatte.
„Er hat sein Angebot verdoppelt,
chérie
.“
„Er hat’s verdoppelt? Die sauer verdienten Dollar der Steuerpflichtigen?“
„Was sind Steuern?“, fragte Kingsley.
Sie lachten. Sie betete, dass die Steuerbehörde nie einen Blick in Kingsleys Bücher warf.
„Was soll ich ihm sagen?“
„Sag ihm, ich bin einverstanden. Mir doch egal. Wenigstens ist es leicht, ihn zufriedenzustellen. Hast du eine Ahnung, warum er so sehr drauf steht, sich von einer erwachsenen Frau in der Uniform eines Schulmädchens die Seele aus dem Leib prügeln zu lassen?“
„Er war ein paar Jahre als US-Gesandter in Japan. Vielleicht hat er da zu viele Mangas gelesen?“
Nora lachte. „Sag ihm, er kriegt Mittwochabend einen Termin. Und das war’s dann erst mal. Ich brauche einen Tag Pause.“ Sie streckte sich, damit die Verspannung in ihren Schultern nachließ. Sie wünschte, Wesley wäre bei ihr. Er hatte diese ganz besondere Art, ihr die Schultern und den Rücken zu massieren, sodass wie von Zauberhand nicht nur der Schmerz nachließ, sondern sie auch vergessen konnte, wie der Schmerz dorthin gelangt war. Wesley – inzwischen waren vier Tage vergangen, ohne dass sie ihn gesehen hatte. Aß er regelmäßig? Passte er auf seinen Blutzucker auf? Nora musste sich zwingen, nicht länger über seine Sorgen nachzugrübeln. Wenn sie an ihn dachte, tat das fast so sehr weh wie ihr Rücken.
Kingsley tippte auf ihre Nasenspitze, damit sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. „Du bekommst einen Tag frei. Donnerstag, schon vergessen? Ein gewisses Mitglied der katholischen Kirche würde mich auf die Judaswiege schnallen, falls ich es wagen sollte, mich eurem heiligen Gründonnerstag-Ritual in den Weg zu stellen.“
Nora schloss die Augen. Donnerstag – Donnerstag war der Jahrestag.
„Weißt du, King, du tust immer so unbeteiligt und unmoralisch. Aber ich glaube, tief in dir steckt ein kleiner Romantiker. Du solltest nur langsam aufhören, uns zu verkuppeln. Søren zu verlassen war das Schwerste, was ich jemals getan habe. Zu ihm zurückzugehen wäre das Einzige, was noch schwerer wäre.“
„Mais oui“
, sagte King und stand auf. „Aber wie du weißt, war
mon père
ein Franzose, und ich habe das Herz eines Franzosen. Und wir lieben nun mal Romanzen.“
„Søren und ich taugen aber nicht für eine Romanze. Wir sind nur eine Fantasie.“
„Bien sûr, ma chérie.“
Kingsley verbeugte sich und verließ rückwärts ihr Zimmer. „Schließlich bist du die Schriftstellerin. Du wirst dich in deinem Genre am besten auskennen.“
Nora schaltete das Licht neben dem Bett aus. Sie lag allein in der Dunkelheit. „Ich
war
Schriftstellerin“, sagte sie zur Zimmerdecke. „Und ich kenne mich überhaupt nirgendwo mehr aus.“
Nora stand vor ihrem Haus und atmete langsam und flach durch. Es half nicht. Sie trat an die Kante ihrer Veranda, beugte sich vor und übergab sich in das Gebüsch. Das Leben im Chez Kingsley nahm sie diesmal mehr mit als früher. Sie hatte wohl ein paar Pillen zu viel genommen, hatte mehr als unbedingt nötig getrunken und Dinge gesehen und getan, von denen sie wünschte, sie wären an ihr vorbeigegangen. Sie wischte den Mund ab und nahm die Hausschlüssel aus der Tasche. Seit Samstag war sie nicht mehr zu Hause gewesen. Fünf Tage war sie fort gewesen, und sie fühlte sich bereits wie eine Fremde, die in ihr eigenes Haus einbrach.
Sie sagte nichts, als sie auf dem Weg zu ihrem eigenen Zimmer an Wesleys vorbeiging. Sie hatte im Moment eigentlich nur noch eines im Sinn. Darum ging sie in ihr Schlafzimmer, betrat das angrenzende Bad und putzte sich die Zähne. Sie sank vollständig bekleidet in die Badewanne.
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