Das Locken der Sirene (German Edition)
sich so erbittert an ihn, dass ihre Fingernägel sich tief in seine Haut gruben. „Sag nicht, ich sei weggelaufen. Ich bin nicht gelaufen, und das weißt du. Du weißt, ich wollte dich nicht verlassen. Ich bin genauso wenig vor dir davongelaufen, wie ich in ein brennendes Gebäude hineinrennen würde. Ich könnte niemals vor dir weglaufen.“
Er lachte leise, weil sie so heftig widersprach.
„Wie würdest du es dann nennen, Kleines?“ Er drückte den Mund auf ihre Stirn.
„Ich bin gekrochen.“ Sie versuchte für ihn zu lächeln. „Darin bin ich schon immer gut gewesen.“
Er schlang die Arme noch fester um sie. Sie betete stumm, er möge sie an sein Bett ketten und sie für den Rest ihres Lebens dort festhalten. Aber sie wusste, bei Anbruch des Tages würde er sie gehen lassen. Er würde sie nicht gegen ihren Willen festhalten, selbst wenn sie es noch so sehr wollte.
„Wenn du zu mir zurückkommst …“, fing er an. Sie schob ihn von sich und schaute ihn fest an.
„Das werde ich nicht.“
„Falls
du zu mir zurückkommst“, sagte er und machte damit ein seltenes Zugeständnis, „wirst du laufen oder kriechen?“
Nora hatte in diesem Augenblick ihren ganzen Körper fest gegen seinen gedrückt. Sie legte ihren Kopf auf seine starke Schulter und sah zu, wie sich eine ihrer Tränen einen Weg über seinen langen muskulösen Rücken bahnte.
„Ich werde fliegen.“
Sie wusste, für Søren war diese Nacht der Beweis, dass sie noch immer zu ihm gehörte. Für sie war diese Nacht die erste, in der sie sich wirklich heimisch fühlte, seit sie ihn verlassen hatte. Für Wesley aber war die Nacht ein lebendig gewordener Albtraum, als er ihre Striemen und Blutergüsse sah. Die aufgeplatzte Lippe, die roten Wangen. Es kostete sie eine gute Stunde, ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht ins Krankenhaus musste. Aus irgendeinem Grund schien es ihn nicht zu beruhigen, als sie ihm erklärte, es habe sie schon schlimmer erwischt. Zum zweiten Mal in vierundzwanzig Stunden hatte sie um etwas betteln müssen.
„Das ist keine Misshandlung“, versuchte sie ihm zu erklären. „Es ist Liebe. Manchmal tritt die Liebe erst im Dunkeln zutage, Wes.“
„Versuch jetzt nicht, mir diesen romantischen Schriftstellerscheiß weiszumachen. Er schlägt dich, und du lässt es zu. Wenn das Liebe ist, sollte er dich einfach nicht mehr lieben“, hatte Wesley auf dem Weg zur Haustür gesagt. Seine Sachen hatte er in einen Matchsack gestopft, und den Gitarrenkoffer trug er auf dem Rücken.
„Ich wünschte, er würde das nicht tun. Um seinetwillen und um meinetwillen. Aber auch um deinetwillen.“
Etwas am Klang ihrer Stimme schien seine Meinung zu ändern. Er ließ den Matchsack fallen und stellte die Gitarre ordentlich daneben. Dann ging er zu ihr zurück und legte behutsam die Arme um sie. Er war so vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Da hatte sie endlich geweint. Geweint, weil sie ihm so viel Schmerz zufügte. Wesley war mit ihr in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte ihr geholfen, das T-Shirt auszuziehen. Sie lag auf dem Bauch auf ihrem Bett, und er kühlte ihre Blutergüsse mit Eis und gab eine antibiotische Salbe auf die Striemen. Während er sie versorgte, sprachen sie kein Wort. Aber als sie sich schließlich gut genug fühlte, um schlafen zu können, hatte Wesley ihr seine Entscheidung mitgeteilt. Er wusste, dass er ihr ihre Arbeit nicht verbieten konnte. Doch sollte sie noch ein einziges Mal zu Søren zurückgehen, sich noch einmal so von ihm zurichten lassen, wäre Wesley fort. Es war, als bitte er sie, ihre Augen zu schließen und sie nie wieder zu öffnen. Aber um Wesleys willen hatte sie sich damit einverstanden erklärt.
Nora fuhr nach Hause und schlüpfte wieder in ihre normale Alltagskleidung. Sie beschloss, ein für alle Male den Kontakt mit Søren abzubrechen. Das würde nicht leicht, denn sie verkehrten in denselben Kreisen. Aber sie würde schon einen Weg finden. Sie wollte nie wieder auch nur ein Wort mit ihm wechseln. Nicht nachdem er sie ausgetrickst hatte, um sie zu treffen.
Nora blieb in ihrem Schlafzimmer stehen und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Sie schaute auf die Uhr: halb sieben. Wesley sollte eigentlich schon seit einer halben Stunde aus der Bibliothek zurück sein. Sie ging in sein Zimmer. Das Bett war wie immer gemacht, aber sein Rucksack war nirgends zu sehen. Sie rief ihn auf dem Handy an, aber er ging nicht ran. Sie wartete noch eine halbe Stunde, weil sie dachte, er sei vielleicht einfach
Weitere Kostenlose Bücher