Das Locken der Sirene (German Edition)
außer auf die Spitze ihrer Stiefel. Nein, sie war keine Prostituierte, erklärte sie ihm. Sie war, wenn überhaupt, eine ziemlich teure Massagetherapeutin, die Schmerz erzeugte anstatt Lust. Obwohl er so schockiert war, zog Wesley bei ihr ein. Das hatte sie so sehr beeindruckt, dass sie ihm von Søren erzählte.
„Lass mich einfach nie mit ihm in einem Raum sein“, hatte Wesley erklärt, nachdem Nora ihm das Wesen ihrer Beziehung offenbart hatte.
„Du glaubst, du kannst es mir Søren aufnehmen?“
„Was hast du gesagt, wie alt er ist? Fünfundvierzig? Achtzehn gegen fünfundvierzig? Außerdem wissen Kerle, die Frauen schlagen, gar nicht, wie sie sich gegenüber einem anderen Mann zur Wehr setzen sollen.“
Nora hatte damals so sehr lachen müssen, dass sie beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Wie süß und edelmütig Wesley doch noch war. Nachdem sie aufgehört hatte zu lachen, hatte sie Wesleys Kinn mit einer Hand umfasst und ihn gezwungen, ihr in die Augen zu sehen. Søren hatte ihr mal gesagt, sie hätte die gefährlichsten Augen, die je eine Frau gehabt habe. Er hatte ihr erklärt, wenn Männer ihr in die Augen schauten, sähen sie darin das Spiegelbild ihrer ureigensten dunklen Ängste. Normalerweise versuchte sie diesen besonderen Trick nicht einzusetzen. Doch an diesem Abend hatte sie Wesley ihre Ängste und seine in ihrem Blick sehen lassen.
„Kleiner, Søren könnte dich zum Frühstück verspeisen und bräuchte dafür nicht mal zu kauen. Leg dich niemals mit einem Sadisten an, Wesley. Für Søren ist Folter nur ein Vorspiel.“
„Warum bist du dann bei ihm geblieben?“, hatte Wesley geflüstert.
Nora hatte ihn angegrinst und eine neue Angst in seinen Augen erwachen sehen. „Ich mag Vorspiele.“
Wesley … Sie konnte ihn nirgendwo finden. Im Wohnzimmer fiel ihr Blick auf einen Zettel, den er an die Tür geklebt hatte. Darauf stand, er sei in die Bibliothek gefahren und gegen sechs wieder zu Hause. Darunter hatte er die Worte gekritzelt, die er ihr sonst immer sagte, ehe sie zu einem Job fuhr:
Du musst das nicht tun
. Nein, das musste sie tatsächlich nicht. Aber sie schuldete es Kingsley. Nora nahm ihren Mantel und die Tasche mit dem Spielzeug und ging ein letztes Mal ins Badezimmer. Dort nahm sie ein Pillenfläschchen aus dem Medizinschrank, schluckte die Tablette ohne Wasser und verließ das Haus.
Bis zum Hotel war es eine vierzigminütige Fahrt. Ihre Klienten gehörten zur Weltelite. Nur die reichsten und mächtigsten Männer und Frauen konnten sich ihre Dienste leisten. Einige von ihnen waren sogar ziemlich bekannt. Es passierte also eher selten, dass sie ein Haus oder ein Hotel durch die Vordertür betrat. Aber da Kingsley nichts davon gesagt hatte, dass besonderer Wert auf Diskretion gelegt wurde, kümmerte sie sich dieses Mal auch nicht darum.
Sie durchquerte die Lobby eines der besten und ältesten Hotels der Stadt und sorgte sich einen Moment, weil jemand von Royal sie vielleicht erkennen könnte. Sie schüttelte diese Befürchtung ebenso schnell wieder ab – niemand, der im Verlagswesen arbeitete, konnte sich so ein Hotel leisten. Die Lobby war voller Frauen in Prada und Männern in Armani-Anzügen. Nora unterdrückte ein Lächeln, als sie in Leder und Spitze und mit der schwarzen Spielzeugtasche an ihnen vorbeieilte. Obwohl sie sich in einem Gebäude befand und draußen noch immer tiefster Winter herrschte, trug sie eine Sonnenbrille. Nicht weil sie sich für das schämte, was sie tat. Es machte ihr einfach nur Spaß, die nervöse Reaktion der Leute zu beobachten, wenn sie mit ihr zusammen in einem Raum sein mussten.
Ein Paar stand vor den Aufzügen und entfernte sich schnell, als Nora sich zu ihnen gesellte. Diese Vanillas waren manchmal so süß! Sie bestieg den Aufzug, drückte den Knopf für den neunzehnten Stock und fuhr allein hoch.
Oben angekommen, verließ sie den Lift, orientierte sich kurz und machte sich auf den Weg zu Raum 1909. Vor der Tür lag eine Zeitung, darunter war die Schlüsselkarte versteckt. Sie öffnete die Tür, betrat das Hotelzimmer und sah einen schwarz gekleideten großen Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand.
„Hallo, Eleanor“, sagte er.
Nora schnappte nach Luft. Ihre Tasche fiel mit einem metallischen Klappern zu Boden.
„Oh mein Gott … Søren.“
Zach saß an seinem Schreibtisch bei Royal. Er rief ein letztes Mal seine E-Mails ab, ehe er den Computer herunterfuhr. Er war überrascht, dass Nora sich gegen das Zusammenstreichen ihrer
Weitere Kostenlose Bücher