Das Locken der Sirene (German Edition)
fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Zitternd vor Angst und Erleichterung legte sie sich wieder hin und atmete tief durch.
„Eine hübsche kleine Krankenschwester hat für mich einen Blick auf sein Krankenblatt geworfen. Er hat etwas, das sich DKA nennt. Klingt das für dich vertraut?“
Beim Klang der Buchstabenkombination wurden Noras Hände taub. „Diabetische Ketoazidose. Die kann tödlich sein.“
Kingsley ratterte die ganze Geschichte herunter, wobei er immer wieder in seine Muttersprache verfiel. Wenn sie das, was er hastig in zwei Sprachen von sich gab, richtig verstand, war Wesley in der Bibliothek schlecht geworden. Nachdem er sich mehrfach in der Herrentoilette übergeben hatte, war er ohnmächtig geworden. Man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht und dort eine ausgewachsene DKA diagnostiziert.
„In welchem Krankenhaus ist er?“, wollte sie wissen. „Welches Zimmer? Bitte sag mir, dass er im General ist.“
„Oui
. Ich habe Dr. Jonas bereits angerufen.“
„Sag ihm, er bekommt von mir die Gratisbehandlung seiner Träume, wenn er mich in Wesleys Zimmer schmuggeln kann.“
„Gratisbehandlungen gibt es nicht. Außerdem hat er bereits versprochen, auf jede nur erdenkliche Weise zu helfen. Er will auf keinen Fall riskieren,
La Maîtresse
zu verärgern.“
„Großartig. Wunderbar! Wo ist er jetzt? Auf der Intensivstation?“
„Kinderintensiv.“ Kingsley lachte, und Nora konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Sie hatten Wesley allen Ernstes auf die Intensivstation für Kinder gebracht! „
Mais, chérie
, du kannst nicht zu ihm.“
„Scheiß drauf. Natürlich kann ich.“
„Seine Eltern sind hergeflogen. Sie sind bei ihm.“
Nora fluchte. Wesley würde sie umbringen, wenn sie an seinem Bett auftauchte, während seine Eltern dabeisaßen. Er tat alles, um sie vor seinen Eltern geheim zu halten. Er schämte sich nicht ihretwegen. Wenigstens glaubte sie das. Aber er wusste, seine Eltern würden ihn so schnell wieder nach Kentucky verfrachten, dass ihm Hören und Sehen verginge, wenn sie erfuhren, dass er bei einer berüchtigten Erotikschriftstellerin lebte – die nebenbei auch noch als Domina arbeitete. Selbst abgestumpfte New Yorker Eltern würden ihre Kinder nicht in Noras Nähe lassen, geschweige denn konservative Südstaatler.
„Vergiss es. Sag mir einfach, wo er ist.“ Nora notierte sich die Zimmernummer. „Danke, King. Ich schulde dir was.“
„Pas moi
. Unser gemeinsamer Freund war es, der herausgefunden hat, wohin sie dein Haustier gebracht haben.“
„Dann sag ihm, wir sind jetzt quitt, nachdem er mich gestern ausgetrickst hat.“
Nora legte auf und lief in ihr Zimmer. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und zog sich erneut um. Bereits um sechs Uhr war sie im Krankenhaus. Sie fand Dr. Jonas und ließ sich von ihm zur Kinderintensivstation führen. Er erklärte lang und breit, dass Wesley nur deshalb nicht auf der regulären Intensivstation lag, weil dort kein Bett frei gewesen war. Nora bat ihn, das Wesley zu verschweigen.
Er führte sie durch helle Korridore an Dutzenden Krankenzimmern vorbei. Sie entdeckte einen Priester, der in einem Raum leise mit einer Familie sprach. Einige Familienmitglieder weinten. Nora senkte respektvoll den Blick und ging weiter. Sie durchschritten eine automatische Doppeltür und erreichten die Kinderintensivstation. An die Wände waren Teddys gemalt, die Luftballons in den Tatzen hielten. Oh ja, sie würde Wesley bestimmt noch oft von seiner Zeit auf der Kinderintensiv erzählen. Dr. Jonas legte den Finger auf seine Lippen und ließ sie vor Zimmer 518 allein. Die Tür stand offen, aber der Vorhang war geschlossen. Sie stand draußen und lauschte angestrengt. Die Stimme einer Frau mit schwerem Südstaatenakzent – seine Mutter, vermutete Nora – flüsterte laut mit einem Mann, dessen Akzent weicher klang. Leise wogte das Gespräch hin und her. Es ging vor allem darum, dass sie ihrem Sohn niemals hätten erlauben dürfen, so weit weg von zu Hause aufs College zu gehen. Nora war erleichtert. Wenn sie sich stritten, war das ein gutes Zeichen. Streit bedeutete, dass Wesley über den Berg war. Aber ihre Erleichterung hielt nicht besonders lange an. Seine Mutter klang fest entschlossen, ihn mit zurück nach Kentucky zu nehmen. Sein Vater wandte ein, er sei inzwischen alt genug, um selbst zu entscheiden, was richtig für ihn war. Sie konnten nicht den Rest seines Lebens auf ihn aufpassen. Nora ertappte sich dabei, zustimmend zu nicken.
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