Das Luxemburg-Komplott
in denen sich das fahle Licht der Gaslaternen spiegelte. Weit vor ihm lief ein Paar in die Nacht, bald war es in einer Seitenstraße verschwunden.
Die Kneipe gab es noch, und sie war geöffnet. Am Tresen standen vier Männer, vor ihnen Biergläser ohne Schaum. Zacharias versuchte sich zu erinnern, wie Bier schmeckte. Er hatte es als Kind probiert, wenn er dem Vater sonntags mit der Blechkanne Bier holte. Kurz vorm Krieg hatte er sich gewöhnt an den Geschmack. Aber in Russland hatte er kein Bier getrunken. In der Sozialdemokratie war es verpönt gewesen, regelmäßig Alkohol zu trinken. Nicht einmal in Russland hatte sich Zacharias das Trinken angewöhnt. Viele Bolschewiken ertränkten in Wodka, was sie plagte.
Zacharias setzte sich an den Tisch neben der Tür. Er betrachtete den Schankraum, Bilder von Soldaten an der Wand.
»Meine Kompanie«, sagte der Wirt. Ihm fehlte ein Arm, und er humpelte. »Die meisten sind tot, ich hatte Glück. Chemin-des-Dames.« Er sagte: »Schömän de Dams.« Dort hatten die Franzosen ihre Soldaten verheizt, die Poilus, Welle auf Welle.
»Ich glaube, ich kenne Sie«, sagte der Wirt. »Sie waren früher öfter hier. Haben Bier geholt.«
»Ja«, sagte Zacharias. »Bringen Sie eines.«
Der Wirt humpelte hinter den Tresen und hielt ein Glas unter den Zapfhahn. Die Männer vorm Tresen hatten Zacharias eine Weile beobachtet. Jetzt drehten sie sich weg und unterhielten sich über den Krieg, schimpften auf die Regierung und den Hunger. Dann sagte einer: »Die Spartakisten sollte man alle an die Wand stellen, angefangen mit Liebknecht und der Judenhure.«
»Kannst dich ja bei nem Freikorps melden, die suchen solche Helden wie dich«, sagte ein anderer. Er trug eine speckige Lederkappe.
»Die nehmen doch nur Offiziere und Unteroffiziere«, widersprach der erste.
»Stimmt nicht, manche nehmen jeden. Zum Beispiel diese Republiktruppe.«
»Schlappschwänze sind das. Schon immer gewesen. Wenn es die nicht gegeben hätte, dann hätten wir Tommies und Froschfresser ins Meer gejagt.«
Der Wirt humpelte mit einem Glas Bier zu Zacharias. »Ist dünner als früher«, sagte er entschuldigend. Er blieb einen Augenblick stehen, als erwarte er eine Antwort. Als Zacharias weiter schwieg, ging der Wirt zurück hinter den Tresen.
»Und du, warst du im Krieg?« rief der mit der Speckkappe zu Zacharias hinüber.
»Ja«, sagte Zacharias.
»An der Westfront?«
»Kurz«, sagte Zacharias.
»Russland?«
Zacharias nickte.
»Wir hätten das zu Ende bringen müssen. Moskau niederbrennen, Petersburg auch. Das Bolschewistenpack fertigmachen. Dann hätten wir heute unsere Ruhe. Die Spartakisten gäbe es gar nicht ohne diesen Lenin und das Gesocks!«
Zacharias sagte nichts. Es hatte keinen Sinn, sich mit Angetrunkenen zu streiten.
»Du redest nicht mit jedem?«
»Stimmt«, sagte Zacharias. »Manchmal will ich einfach in Ruhe sitzen und ein Bier trinken.«
Der mit der Kappe ging einen Schritt auf Zacharias’ Tisch zu. »Lass ihn«, sagte der vierte Mann, der bisher geschwiegen hatte. Der mit der Kappe zögerte, dann drehte er Zacharias wieder den Rücken zu.
Zacharias roch das billige Kraut, das die Männer rauchten. Es kratzte im Hals. Früher hatte es hier sonntags nach Zigarren gerochen. Da saßen die Männer an den Tischen und diskutierten über das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, Bebel, die Kolonien, den großkotzigen Kaiser und seine wahnwitzigen Flottenpläne. Heute stehen sie am Tresen und wollen morden, dachte Zacharias. Der Krieg hat den Leuten den Anstand geraubt. Es tötet sich leichter nach dem großen Sterben im Graben. Ein Menschenleben ist weniger wert als früher. Auch du hast Leute getötet, viele. Du bist nicht anders als die Männer am Tresen. Du hast alles für die Revolution getan, damit die Bolschewiki an der Macht bleiben. Men schen töten, damit andere Menschen an die Macht kommen und an der Macht bleiben. Ebert lässt auf Arbeiter schießen. Es ist eine Klassenfrage, entweder die oder wir. Du darfst dich nicht verwirren lassen, dass auch Arbeiter fehlgeleitet sind, dass sie noch zu Arbeiterfeinden halten und Spartakisten töten wollen. Das ist nur die Oberfläche. Das Eigentliche liegt darunter. Das ist der Kampf der Klassen, der nie in Reinform ausgetragen wird.
Es war wie immer, einen Augenblick gelang es ihm, sich selbst zu überzeugen, aber bald meldeten sich wieder die schrecklichen Bilder und mit ihnen die Zweifel. Nur wer nichts tut, macht keine Fehler, sagte er sich.
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