Das Luxemburg-Komplott
er kaum einschlafen. Bilder einer glücklichen Vergangenheit zeigten ihm sein Elend. Erinnerungen an den Vater und Renate. Sie waren weit weg. Er gehörte nirgendwohin. Nicht nach Russland, nicht in dieses Deutschland. Nie hätte er vor dem Krieg geglaubt, sich eines Tages eingestehen zu müssen, dass es zu Kaisers Zeiten schön gewesen sei. Berlin sah noch so aus wie vor dem Krieg, die Fassaden waren die gleichen. Aber die Menschen waren niedergeschlagen, manche zerstört. Krüppel auf den Straßen, Bettler, Arbeitslose. Er sah Margaretes Gesicht vor sich. Sie war dünn geworden. So sahen Menschen aus, die hungerten. Solche Gesichter kannte er aus Russland.
*
Die Mutter war zur Arbeit, als Zacharias am Morgen in die Küche kam. Auf dem warmen Herd stand die Blechkanne mit Zichorienkaffee, auf dem Tisch ein Teller mit einer Scheibe Kleiebrot und ein Glas mit Pflaumenmus. Erbärmlich, verglichen mit dem, was sie vor dem Krieg gefrühstückt hatten. Sonntags hatte es sogar für Schrippen gereicht, die sie bei Bäcker Adam holten.
Nach dem Frühstück besorgte Zacharias sich den Vorwärts und die Freiheit und las. Die Unabhängigen lehn ten es radikal ab, in die Regierung einzutreten, die Mehrheitssozialdemokraten bildeten daher eine Koalition mit bürgerlichen Parteien. Die Rechte schäumte und fabulierte über Novemberverbrecher, die schuld seien an der Kriegsniederlage und den demütigenden Waffenstillstandsbedingungen, die Deutschland wehrlos machten.
Dann machte er sich auf den Weg zum Alexanderplatz. Die Berolina-Statue glänzte vor Nässe, Zacharias fröstelte. Er war zu früh und spazierte auf dem Platz umher. Hin und wieder schaute er sich unauffällig um. Wahrscheinlich war die Kontaktperson schon da und beobachtete ihn. War es der Mann, der ein paar Meter neben der Statue stand und den Trubel betrachtete? War es der auf Krücken, der seinen Hut auf den nassen Boden gelegt hatte in der Hoffnung, jemand würde ihm Geld hineinwerfen? Den Mann, den er im Tiergarten getroffen hatte, sah er nirgends. Aber vielleicht lauerte er irgendwo?
Um zwei Uhr stellte sich Zacharias nahe an die Statue.
»Wie geht es Mimi?« fragte eine Frauenstimme in seinem Rücken.
Er drehte sich um. Sie trug eine schwarze Mütze auf schwarzen Haaren. Er schluckte, sie gefiel ihm gleich. Sie blickte ihn streng an.
»Gut geht es ihr. Hoffe ich jedenfalls.«
Sie hakte sich bei ihm ein. »Dann fallen wir nicht so auf.« Sie zog ihn in Richtung U-Bahnhof Alexanderplatz. »Ach ja, die arme Mimi ist lange tot.«
»Wohin gehen wir?«
»Wir fahren jetzt ein Stück, dann gehen wir. Und dann erklär ich Ihnen etwas. In dieser Reihenfolge.«
Im Bahnhof lösten sie Fahrscheine für die dritte Klasse, dann setzten sie sich in einen Zug Richtung Gleisdreieck. Dort stiegen sie um in die U-Bahn Richtung Warschauer Brücke. Sie sprachen kein Wort. An der Endhaltestelle stiegen sie aus. Dann sagte sie: »Wir müssen jetzt noch ein Stück laufen.« Sie gingen in Richtung Petersburger Straße, dann rechts hinein in die Boxhagener Straße. Mietshäuser grenzten die Straße ein.
Vor einem Haus zwang die Frau Zacharias, langsam zu laufen. Dann blieben sie vor einem Fenster stehen. Die Frau zog Zacharias an ihre Seite, so dass er zum Fenster schaute. Zacharias glaubte, einen Schemen gesehen zu haben hinter der Scheibe. Nach einigen Sekunden drehte sie sich um, und sie liefen langsam zurück zur Warschauer Straße.
Plötzlich Schritte von hinten. Ein Mann überholte sie, er flüsterte der Frau etwas ins Ohr und verschwand. Die Frau blieb stehen und sagte: »Dann ist ja alles in Ordnung, Genosse Zacharias. Kommen Sie. Ich habe eine Überraschung für Sie.«
Sie führte ihn zum Eingang des Hauses, vor dem sie gestanden hatten. Sie klopfte an die Tür der linken Erdgeschosswohnung, die wurde gleich geöffnet. Ein Mann winkte sie hinein und führte sie in das Wohnzimmer. Zacharias lachte, als er den Mann sah, der auf dem Sofa saß. Der Mann lachte auch. »So sieht man sich wieder«, sagte er.
»Der Genosse Reuter, ich dachte, Sie sind in Russland.«
»Nichts bleibt, wie es ist. Nennen Sie mich Friesland. Ich habe mit Lenin gesprochen, bevor ich abreiste. Und Radek habe ich schon informiert. Sie sollten sich bald mit ihm treffen.«
»Haben Sie neue Instruktionen für mich?«
»Nein, ich bin vor Ihnen abgereist, schon im Dezember. Ich nehme an, Sie wurden danach eingewiesen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich Ihren Auftrag unterstützen
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