Das Luxemburg-Komplott
ihn. Zacharias hatte ihn einmal gesehen auf einer Sitzung im Smolny in Petrograd. Wie eine Furie war er über linke Sozialrevolutionäre hergefallen, der kleine Mann mit den wirren Haaren, schlecht oder gar nicht rasiert, auf der Nase eine Brille mit dicken Gläsern, die die Augen stieren ließen. Er war witzig und demagogisch, gebildet und derb, brillant, verhasst bei vielen, geliebt von wenigen. Aber alle wussten, Lenin schätzte Radek. Der war in Deutschland gewesen, auf dem radikalen linken Flügel der SPD, ein vorzüglicher Journalist, der sich in seiner zweiten Heimat so gut auskannte wie kaum ein Deutscher. Radek war wieder in Deutschland, und wo er war, da war auch Lenin.
Zacharias verunsicherte die Vorstellung, Radek könnte auch über ihn herfallen. Was sollte er tun, wenn Radek etwas von ihm verlangte, was nicht zu seinem Auftrag gehörte?
Du denkst zu weit. Warte es ab. Hatte Lenin nicht gesagt, Radek dürfe Zacharias keine Befehle geben? Doch die Unruhe ließ ihn nicht los. Er ahnte den Streit voraus zwischen Radek und Rosa Luxemburg, deren Feindschaft die Beziehung der Spartakisten zu den Bolschewiki von vornherein belasten musste. Luxemburgs Vertrauen in die Massen gegen Lenins Organisationseifer, der sich die deutsche Reichspost zum Vorbild gewählt hatte. Es passte nicht zusammen. Das spürte er, und dies war die eigentliche Ursache seiner Unruhe. Er fürchtete, zwischen die Mahlsteine zu geraten. Und er fürchtete, die eigene Zerrissenheit zu offenbaren. Ein Revolutionär zweifelt nicht. Wie soll einer sein Leben einsetzen für eine Sache, an der er zweifelt?
*
Am Abend beobachtete er die Mutter. Sie stellte das karge Essen auf den Tisch. Sie bewegte sich langsam und gleichförmig, fast schlurfte sie. Er erinnerte sich, wie ihre Augen früher leuchten konnten, wenn sie sich freute. Sie konnte sich an einer Kleinigkeit erfreuen, an der ersten Blume im Frühling wie an der ersten Schneeflocke im Winter. Sie versuchte ihren Mann und die Kinder anzustecken mit ihrer Freude, manchmal gelang es ihr bei den Kindern. Den Vater verunsicherte aller Überschwang. Er war von norddeutschem Gemüt, zurückhaltend, selten laut, bedächtig. Ein wenig davon hatte Zacharias geerbt, der auch nur redete, wenn er es für sinnvoll hielt. Und der andere nicht teilhaben ließ an seinem Innenleben.
Die Augen der Mutter waren stumpf. Sie sprach wenig, wollte aber etwas wissen über die Erlebnisse ihres Sohns in Russland. Aber der antwortete nicht. Sie löffelten schweigend die dünne Suppe, in der diesmal ein paar blau angelaufene Kartoffeln schwammen. Zacharias fragte nicht, wo die Mutter sie besorgt hatte und was sie dafür hatte hergeben müssen.
Nach dem Essen räumte die Mutter die Teller vom Tisch und wusch ab. Ab und zu hörte Zacharias sie atmen. Es klang fast wie ein Seufzen. Bestimmt wollte sie erfahren, wie es mit ihm weitergehe, aber sie fragte nicht. Als die Küche aufgeräumt war, ging die Mutter zu Bett. Zacharias saß allein und überlegte, wie es früher gewesen war. Da wurde nach dem Essen noch geredet und gescherzt, manchmal brachten sie sogar den Vater zum Lachen. Die Mutter hatte hell gelacht, und Renate war eingefallen. Dabei gab sie der Heiterkeit oft den Grund, wenn sie andere Leute nachäffte, einen Nachbarn, einen Verkäufer oder eine Freundin.
Zacharias musste schlucken. Er spürte den Hass, der in ihm tobte. Die den Krieg verschuldeten, hatten sein Glück zerstört. Sie hatten Millionen das Leben zerstört. Und waren die nicht die Übelsten, die die Internationale verraten hatten? Die für den Krieg eintraten, nachdem sie Tage zuvor noch die Arbeiter zu Demonstrationen für den Frieden auf die Straßen gerufen hatten? Die die Lüge, Russland habe Deutschland angegriffen, begierig glauben wollten, obwohl sie es besser wissen mussten?
Die Revolution war die Rache der Toten. Nicht diese schlappe Revolution im November, sondern die Revolution, die kommen würde. Eine nach Lenins Muster, die aufräumte mit den Reaktionären und ihren sozialdemokratischen Stiefelleckern. Zacharias genoss den Hass in sich, er verschaffte Gewissheit.
Erst wollte er schlafen gehen, dann entschied er sich, eine Kneipe aufzusuchen. Er musste unter Menschen kommen, verstehen, wie sie dachten. Er war so lange weg gewesen. Zacharias erinnerte sich an den Goldenen Anker. Draußen zog er den Schal enger, feuchte Kälte kroch trotzdem unter den Mantel. Seine Schritte klatschten in der Nässe, er wich Pfützen aus,
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