Das Luzifer Evangelium
Wahnsinn einen umkreist, gibt es viele Orte, an denen man sich verstecken kann. Manche flüchten sich ins Lachen. Andere fahren in den sicheren Hafen der Ablehnung und Leugnung ein. Wieder andere stecken sich die Finger in die Ohren und sagen so laut sie können LALALALALALALALA , damit sie alles übertönen und nichts hören müssen. Wir sind so beschaffen, jedenfalls einige von uns. Ich, zum Beispiel. Wir gehen den Dingen aus dem Weg, von denen wir nichts wissen wollen. Ich starrte CC an und suchte nach einem Anzeichen, einer winzigen Geste, dass er mich auf den Arm nehmen wollte, sich einen Witz erlaubte. Aber in seiner ernsten Miene war keine Regung, in seinen Augen kein Schalk zu erkennen. CC s Blick war vollkommen ausdruckslos. Er wartete darauf, dass die Worte bei mir ankamen, eines nach dem anderen, und in meinem Bewusstsein detonierten.
Sein Name war Oûäh. Und er kam aus dem Weltraum.
Als ich klein war und die Gruppe blutrünstiger Piranhas, die unter dem trügerischen Namen Klassenkameraden rangierten, mich auf dem Schulhof quälten, mich Bleichgesicht oder Rotauge riefen und mich mit ihren Blicken und frisch gespitzten Bleistiften aufzuspießen versuchten, bin ich immer zu Frau Ulrichsen geflüchtet, der netten, rundlichen Hauswirtschaftslehrerin, die in den Pausen stets die Aufsicht führte. Im Schutz von Frau Ulrichsens formidablem Gravitationsfeld und ihrer überragenden Oberweite fühlte ich mich sicher vor dem Schwarm der Pygocentrus piraya , der nach mir schnappte und sich ein leckeres Frühstück versprach. Viele Jahre später, als ich wie üblich allein in meinem Büro aß, blätterte ich durch eine Zeitung und entdeckte einen Artikel über Frau Ulrichsen. Ich weiß noch, dass ich wie erstarrt mit halb geöffnetem Mund und meiner Scheibe Brot in der Hand dasaß. Fünfzehn Jahre lang war Frau Ulrichsen von ihren Lehrerkollegen gemobbt worden. Jetzt hatte sie die Schule verklagt.
Die Methoden ihrer Kollegen waren natürlich deutlich subtiler gewesen als die meiner Klassenkameraden, das Resultat aber war das Gleiche. Frau Ulrichsen war – genau wie ich – eine Ausgestoßene gewesen. Eine, die nicht zur Gemeinschaft gehörte. Sie wurde mit Schweigen gestraft, mit Blicken, mit Abweisung und kalten Repliken. Frau Ulrichsen hatte deshalb in der Einsamkeit des überfüllten Schulhofs Zuflucht gesucht. Mit ihrer matronenartigen Fülle marschierte sie in einer festgelegten Route vom Trinkbrunnen zum Regendach und von dort zur Laterne und rettete auf ihrer langsamen Reise die Verlierer – wie mich – aus den Klauen der gierigen Meute. Ich war nie auch nur auf die Idee gekommen, dass auch sie ein Opfer sein könnte. Jetzt denke ich immer an Frau Ulrichsen, wenn etwas nicht so war, wie es schien; wenn ich etwas Unausgesprochenes erahnte, etwas, das zwischen den Zeilen vibrierte.
Sein Name war Oûäh. Und er kam aus dem Weltraum.
Seit meinem allerersten, neugierigen Blick auf das Luzifer - Evangelium wie auch während der langen Jagd nach des Rätsels Lösung hatte ich die Anwesenheit von etwas anderem gespürt, etwas ganz anderem, das zu fassen ich nicht in der Lage gewesen war.
Etwas wie Oûäh …
Gleichzeitig war CC s Erklärung wie ein Faustschlag in die Magengrube. Der Schlag nahm mir die Luft. Wie die brutale Feststellung des Arztes, dass man an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet. Man will das nicht hören, will die Zeit zurückdrehen.
Oûäh aus dem Weltraum …
Ich dachte an Frau Ulrichsen. Sie war auf den Schulhof geflüchtet.
Ich selbst hatte keinen Ort, an den ich entfliehen konnte.
ROM, MAI 1970
Sie fuhren mehrere hundert Meter an einer verfallenen Mauer entlang, die nur teilweise den Blick auf einen Weinberg versperrte, der früher einmal zu einem Gut oder einem Kloster gehört haben musste, jetzt aber von einem Bauern aus der Nachbarschaft gepflegt wurde. Hier und da war die Mauer in sich zusammengefallen. Unkraut, Mimosen und Efeu wuchsen am Graben vor der Klostermauer, an der die Menschen über die Jahre ihren Müll abgeladen hatten. Rostige Tonnen, Traktorreifen, große Plastikkanister, Paletten, Autobatterien, Paraffinkanister, in die Jahre gekommene Radios, Weinballons und eine löcherige Badewanne. Das Auto wirbelte eine Staubwolke auf, die die Vegetation an der alten Landstraße wie Puder überzog. Ein Traktor mit Anhänger stand weit draußen auf einem Feld. Darüber flog ein Schwarm Stare. Gleich, dachte Giovanni, fängt es zu regnen an. Sein Kopf kippte nach
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