Das Luzifer Evangelium
Klaustrophobie ganz zu schweigen. Immerhin befanden wir uns in einer unterirdischen Grabkammer, die rein theoretisch jeden Augenblick einstürzen konnte. Auch wenn die Katakomben, das musste ich einräumen, zweitausend Jahre unbeschadet überstanden hatten.
»Ich habe ein Geräusch gehört.«
Im Schein der Taschenlampe sah ich, dass CC grinste.
Der Fahrer, der uns hierhergefahren hatte, wartete auf dem Platz vor der Basilika St. Sebastian, die über den ältesten römischen Grabmälern der Katakomben errichtet worden war.
Sowohl CC als auch ich nickten auf der Fahrt zurück zur Via Veneto ein.
2
»Vor unserem nächsten Treffen«, hatte CC auf einen Post-it-Zettel geschrieben, »möchte ich gerne, dass Sie das hier lesen.«
Der selbstklebende Zettel zierte einen Stapel vergilbter Blätter:
=== KURZE ÜBERLEGUNGEN ZUR HÖLLE ===
Von Giovanni Nobile
Rom, November 1968
Die meisten Religionen stellen sich die Hölle als einen metaphysischen oder wirklichen Ort vor, in dem die Toten landen, wenn sie nicht in die Seligkeit aufgenommen werden. Das italienische Wort inferno leitet sich vom lateinischen infernus ab (was unter/unterirdisch bedeutet). Das englische hell ist auf das altenglische hel/helle zurückzuführen und auf das altnordische hel (das auf Helheim verweist, ein unterirdisches Totenreich). Für die meisten Menschen ist die Hölle eine geistige Vorstellung und im schlimmsten Fall eine religiöse Vorahnung oder Furcht. Die Kirche und die Priester nutzten vom Mittelalter bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Hölle als effektives Drohmittel, um Gläubige und Ungläubige zu religiösem Gehorsam zu zwingen.
Aber war die Hölle zu irgendeinem Zeitpunkt ein physischer Ort – und nicht nur eine religiös-mythologische Vorstellung? Ziehen wir eine Verbindungslinie von der Hölle und dem Hades zurück nach Gehenna und Scheol, gar bis zurück ins babylonische Irkalla, sehen wir neben vielen gemeinsamen Nennern, dass die Unterwelt sich physisch unter der Erdoberfläche befindet. Bereits im neunzehnten Jahrhundert zog der französische Okkultist Jacques Auguste Simon Collin de Plancy eine Linie zwischen Nergal und der Hölle. Der Prophet Jesaja schreibt: Hinunter ins Totenreich fuhrest du, zur tiefsten Grube. Er setzt das Totenreich mit einer Grube gleich. Auch in der babylonischen Mythologie kommen die Toten in einer unterirdischen Grube zusammen. Diese gigantische unterirdische Grotte wurde Irkalla genannt.
Religiöse Höllenvorstellungen haben ihre Wurzeln in althebräischen Mythologien wie der sumerischen, akkadischen und babylonischen. Die frühesten Totenreiche hatten nichts mit Hitze und Flammen zu tun, im Gegenteil, die Hölle war kalt, steinig und dunkel. In Irkalla (Ir-Kalla/Irkalia/Arali/Kigal/Gizal) herrschten der Todesgott Nergal* (ein Vorläufer von Satan/Luzifer) und seine Göttin Ereschkigal.
* Im zweiten Buch der Könige, Kap. 17, Vers 30, wird Nergal mit seinem richtigen Namen genannt.
Irkalla weist mehrere Übereinstimmungen mit dem hebräischen Totenreich Scheol auf. Scheol steht in vielen Zusammenhängen gleichrangig neben der Hölle und dem griechisch-mythologischen Totenreich Hades , auch wenn diese Totenreiche nicht notwendigerweise vergleichbar sind. Gehenna wiederum ist die hebräische Entsprechung der christlichen Hölle (und nicht das Gleiche wie Scheol). Ursprünglich war Gehenna eine Müllhalde vor den Toren von Jerusalem (im Tal von Ge-Hinnom, wo früher zu Ehren des Gottes Molok Kinderopfer dargebracht wurden). Was also sind die Übereinstimmungen – und Unterschiede – von der Hölle und den Totenreichen Hades, Gehenna, Scheol und auch für den frühen Vorläufer des Totenreiches Irkalla?
Meine Hypothese lautet, dass Irkalla eine Totenstadt ist. Ich glaube, dokumentieren zu können, dass die Hölle und die entsprechenden Totenreiche einem höchst physischen und reellen Ort entspringen: einer Grotte, in der die Babylonier ihre Toten zur Ruhe gebettet haben, nicht unähnlich der Praxis der Römer mit ihren Katakomben. Im Folgenden möchte ich auf das klassische Verständnis und neuere Interpretationen eingehen...
Ich legte den Stapel beseite.
Mir war schon klar, was CC im Schilde führte. Er wollte mich weich klopfen, den Grund bereiten für seine aberwitzige Vorstellung von der Hölle. So leicht kriegte er mich nicht dran. Giovanni Nobiles vierzig Jahre alte Auslegungen erschütterten weder meinen logischen Menschenverstand noch meinen Blick auf die
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