Das Maedchen am Klavier
aufgestanden wäre. Auf die beiden anderen Geburten hatte sie sich – bei aller natürlichen Angst und Sorge – gefreut. Diesmal aber war sie überzeugt, dass das neue Kind zwar vielleicht noch schöner als seine beiden Vorgänger sein würde, dafür aber vielleicht noch viel lauter und anstrengender. Täglich fragte sich Clementine, wie sie ein solches Schreikind wie den kleinen Clemens hatte gebären können, und sie hatte Angst vor dem, was mit dem neuen Kind auf sie zukommen würde. Am meisten aber fürchtete sie sich vor dem Augenblick, wenn ihr die Hebamme das Neugeborene in den Arm legen würde und sie selbst dabei wieder nichts anderes empfand als Leere, Erschöpfung und Überdruss.
Ich bin ein Monstrum!, dachte sie. Ich bin keine richtige Mutter. Richtige Mütter lieben ihre Kinder vom ersten Augenblick an, und der Tag der Geburt gehört zu den glücklichsten in ihrem Leben. Doch für solche Gedanken war jetzt keine Zeit. So schnell es ging, stand sie auf, deckte das Bett zu und eilte zu ihrem Gatten, der sie mit ausgebreiteten Armen erwartete.
»Tinchen!«, rief Friedrich Wieck in zärtlichem Ton, als sie ihm gegenüberstand und sich die zerzausten Haare zurückstrich. »Schön wie eine Blume! Die Mutterschaft steht dir gut.«
Clementine ließ sich umarmen und murmelte einen Willkommensgruß. Wie jedes Mal, wenn ihr Ehemann längere Zeit fort gewesen war, wunderte sie sich, wie laut und durchdringend seine Stimme klang – selbst jetzt, wo er sich doch um Sanftheit bemühte. Sie fragte sich, ob er sich heimlich ein Beispiel an seinem Freund Konsul List nahm, der in Leipzig manchmal fast schon Kopfschütteln hervorrief, so fürsorglich und liebevoll ging er mit seiner Familie um.
Da man den Hausherrn erst gegen Abend erwartet hatte, war noch kein Essen vorbereitet. Überrumpelt und beleidigt servierte die Köchin Berta die Reste des Mittagessens. Doch die befürchtete Zurechtweisung blieb aus. Genussvoll ließ sich Friedrich Wieck das karge Mahl schmecken. Er versicherte sogar, nirgendwo auf der Welt schmecke es so gut wie zu Hause. Die einträglichen Geschäftsabschlüsse, die ihm gelungen waren und von denen er kauend berichtete, hatten ihn offensichtlich milde gestimmt.
Sogar ein paar kleine Geschenke hatte er mitgebracht: für Clementine und für Clara jeweils ein schwarzsamtenes Abendtäschchen in Beutelform, das oben mit einem goldenen Band zugezogen werden konnte. »Ein Pompadour«, belehrte Friedrich Wieck die beiden Beschenkten. »Benannt nach dieser Person, na, ihr wisst schon. Aber elegant, nicht wahr? Davon verstehen sie etwas, die Französinnen.« Dann griff er noch einmal in seine Tasche und holte für Alwin und Gustav je ein Paket Spielkarten hervor. »Geige üben ist zwar wichtiger«, stellte er pädagogisch fest. »Aber hin und wieder, nun ja ...«
Die beiden Knaben nahmen ihre Geschenke entgegen und vergaßen vor lauter Verblüffung sogar, sich zu bedanken.
Erst jetzt fiel Friedrich Wiecks Blick auf Ernestine, die hinzugekommen war und damit rechnete, ebenfalls bedacht zu werden. Für einen kurzen Moment kam Peinlichkeit auf. Dann fasste sichFriedrich Wieck. »Ihnen, Mamsell, habe ich nichts mitgebracht. Ich rechne damit, dass im Gegenteil Sie mich beschenken werden, indem Sie dem Klavier Töne entlocken, von denen ein Klavierlehrer nur träumen kann.«
Ernestine errötete erfreut und machte einen Knicks, während sich Clementine wunderte, wie weltmännisch ihr Gatte klang, wenn er von seinen Geschäftsreisen zurückkam. Fast schon wie ein Diplomat. Wie lange dieser Schliff allerdings anhielt, musste sich erst noch erweisen.
Zwei Stunden später zeigte sich, dass die Welt tatsächlich nur ein paar Atemzüge lang innegehalten hatte und sich nun wie gewohnt weiterdrehte: Die Lehrer im Logier’schen Institut wurden niedergemäht, weil ihre Berichte nicht ausführlich genug gewesen waren. Ernestine schluchzte, weil sie hören musste, sie habe nicht ausreichend geübt und sei wohl auch nicht sehr fleißig spazieren gegangen, denn ihre Körperhaltung lasse zu wünschen übrig. Alwin und Gustav bekamen ihre Geigennoten um die Ohren, und das Personal wurde pauschal aufgefordert, sich gefälligst mehr anzustrengen. Nur die Kleinsten, Marie und Clemens, wurden getätschelt und auf die Stirn geküsst, und Clementine wurde wieder zum Schlafen geschickt.
Erst jetzt war Claras Stunde gekommen. »Nun, Clärchen?«, fragte Friedrich Wieck und atmete hörbar auf. »Was hast du für mich
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