Das Maedchen am Klavier
womöglich sogar – wie ihr stolzer Vater es ausgedrückt hatte – ein regelrechter Brillant. Sobald Ernestine ihre Hände auf die Tasten legte, schien sie ein anderer Mensch zu werden. Kein nervöses Gezappel mehr, keine überbordende Heiterkeit. Dafür aber ganz unerwartet ein tiefes Gefühl für Tragik und Schmerz, für Sehnsucht und die Qualen des Verzichts.
»Wie dieses Mädchen Chopin spielt, ist schon ganz ungewöhnlich«, gestand Friedrich Wieck Clementine, als sie in der Nacht neben ihm im Bett lag, ohne mit ihm sprechen zu wollen. Der Gedanke an das neue Kind in ihrem Körper verschloss ihr den Mund. Was interessierte es sie da, ob der bunte Vogel aus dem Böhmerland die Erwartungen seines Lehrers erfüllte oder nicht? Clementine merkte nicht, dass ihr Ehemann lange nicht einschlafen konnte, weil er sich fragte, ob eine Pianistin mit dem Äußeren und der Wesensart Ernestines überhaupt eine Chance hatte, die Achtung oder gar Verehrung des Publikums zu gewinnen. So laut, so bunt, so schrill – und so ganz anders als seine Clara mit ihrem ernsten, konzentrierten Auftreten. Wenn sie sich nach ihrem Spiel verneigte, waren die Zuschauer allein schon über ein Lächeln entzückt oder über ein leises Flattern ihrer Hände, das man als ein verstohlenes Winken auslegen konnte. Ernestine von Fricken hingegen würde ihrem Publikum zuwinken, ihm womöglich sogar Kusshände zuwerfen oder im Überschwang den einen oder anderen buchstäblich ans Herz drücken.
Distanz!, dachte Friedrich Wieck in der Tiefe der Nacht. Ein Künstler musste Distanz halten. Er musste den Anschein erwecken, er sei nicht von dieser Welt. Ein besonderes Wesen sei er, das man ansehen durfte, aber nicht berühren.
An Ernestine jedoch, dachte er weiter, war alles von dieserWelt. Ihre Fröhlichkeit, ihre laute Stimme, ihr rosiges Gesicht, ihre zerzausten Locken und vor allem ihr üppiger Körper, den Friedrich Wieck in Anbetracht ihres Dekolletés für überernährt hielt. Dabei hätte ihn der Anblick der schmalen Taille darüber belehren können, dass von überernährt keine Rede sein konnte, sondern dass er hier ein Exemplar besonders ausgeprägter Weiblichkeit vor sich hatte. Seine Hoffnung, die Proportionen dieses Körpers durch die obligaten Spaziergänge disziplinieren zu können, würde sich jedenfalls als Illusion erweisen.
Trotzdem folgte Ernestine gehorsam den Anweisungen ihres Lehrers, den sie bewunderte und fast schon liebte. Regelmäßig begleitete sie Clara auf ihren täglichen Spaziergängen. Da sie es gewohnt war, Aufmerksamkeit zu erregen, wunderte sie sich nicht, dass sich bald auch ein anderer – inzwischen ehemaliger – Schüler Friedrich Wiecks hinzugesellte. »Der Herr Schumann«, fragte Ernestine seither jeden Tag hoffnungsvoll, wenn sie sich mit Clara auf den Weg machte, »glaubst du, er begleitet uns heute wieder?«
Er tat es, und er tat es bald schon jeden Nachmittag. Gleich nach dem Essen trat er, ohne den Torklopfer zu betätigen, ins Haus und pochte an die Esszimmertür, selbstsicher und sorglos, denn Friedrich Wieck hatte inzwischen seine Klavierreise angetreten. Der Übungsplan für Ernestine war ausgearbeitet und zeitlich genau festgelegt. Friedrich Wiecks persönliche Anwesenheit war vorläufig nicht erforderlich. Die Übungsstunden konnte auch einer der angestellten Lehrer überwachen. Den Feinschliff würde dann der Herr Direktor übernehmen, wenn er wieder da war.
Niemand vermisste ihn. Von einer Minute zur nächsten wurden im Hause sämtliche Ansprüche und vor allem das Tempo aller Verrichtungen zurückgeschraubt. Man atmete auf. Wer imstande war, das Leben zu genießen, tat dies auch.
Vor allem Ernestine, die sich doch eigentlich so innig gewünscht hatte, bei Friedrich Wieck zu studieren, freute sich nun über seine Abwesenheit. Sie wusste nicht genau, wie ihr Lehrerzu Robert Schumann stand, doch sie hatte das Gefühl, Friedrich Wieck würde es nicht billigen, wenn sie sich zu eng an seinen ehemaligen Schüler anschloss. Es kam ihr vor, als hege ihr Lehrer eine gewisse Abneigung gegen den jungen Mann. Außerdem hatten die Wiecks ihrem Vater versprochen, seine lebenslustige Tochter wie einen Augapfel zu hüten. »Der Ruf einer jungen Dame ist ihr höchstes Gut«, hatte ihr Vater eindringlich angemahnt. »Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen.« Natürlich hatte man ihm alles versprochen und natürlich war auch Ernestine selbst guten Willens. Mit einem jungen Mann wie Robert Schumann hatte sie
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