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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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die Hände, weil er sicher war, Friedrich Wieck, der alte Fuchs, habe seinen Biss verloren und sei ab jetzt wohl nicht mehr gefährlich.
    Man war glücklich auf eine kindliche, gläubige Art. Man fühlte sich sicher und geborgen und meinte, so würde es nun immer weitergehen. Sogar Clemens hatte aufgehört zu schreien. Still lag er abends in seinem Bettchen, wenn Clementine zu ihm hereinkam und ihn auf die Stirn küsste. Dann lächelte er ein wenig, schloss die Augen und schlief gleich ein. Clementine dachte, dass seine Amme wohl recht gehabt hatte, als sie meinte, er schreie nur, um seine Lungen zu kräftigen. »Vielleicht will er einmal eine Stimme bekommen wie sein Vater«, hatte die Amme augenzwinkernd hinzugefügt. Nun aber, dachte Clementine, war seine Lunge wohl kräftig genug und die Hausbewohner durften nachts in Ruhe schlafen – vor allem Cäcilia, die ein wahrer Sonnenschein war und nur Freude um sich verbreitete.
    Ja, man war glücklich und hielt sich für unverwundbar. Niemand rechnete damit, dass Cäcilias Amme eines Morgens einen Schrei ausstoßen würde, der das Haus zum Einsturz zu bringen schien. Ein anhaltender, durchdringender Schrei, der die goldenen Tage im Hause Wieck beendete. Als er verklungen war und sich die Hausbewohner erschrocken in der Tür drängten, stand der Mund der Amme immer noch offen, als könnte sie ihn nie wieder schließen. Den Blick abgewandt, wies sie mit ausgestrecktem Arm auf das Bett in der Ecke, in dem der kleine Clemens lag. Da begriffen alle gleichzeitig, dass er nie wieder schreien würde und dass seine Lungen wohl doch nicht kräftig genug gewesen waren oder vielleicht auch sein Kinderherz nicht.
    »Was ist mit Clemens?«, fragte seine ältere Schwester.
    Clara zog sie an sich. Sie erinnerte sich an die Briefe, die ihreMutter aus Berlin geschickt hatte. Vom kleinen Viktor hatte sie da berichtet, der nun bei den Engeln sei, genauso wie das Schwesterchen Adelheid, das noch vor Clara geboren worden war. »Ja, weißt du, Mariechen«, antwortete Clara zögernd. »Ich glaube, unser lieber Clemens ist jetzt ein Engel.« Schon während sie es sagte, hätte sie am liebsten laut geweint. Doch um Maries willen zwang sie sich zur Ruhe.
    Marie blickte sie zweifelnd an. Dann trat sie ans Bett ihres Bruders und streichelte sein Haar. »Darum schreit er auch nicht mehr«, stellte sie sachlich fest. »Nicht wahr, Clara, Engel schreien nicht?«
    »Kinder sind kein Besitz«, sagte Clementines Mutter, als sie am Abend vor dem weißen Bettchen stand und auf das weiße Gesichtchen und die gefalteten weißen Hände hinunterblickte. »Nicht einmal ein Geschenk. Sie sind nur geliehen. Wenn der Herrgott sie zurückholt, dürfen wir nicht hadern.« Dann senkte sie schnell den Kopf, damit man nicht von ihrem Gesicht ablesen konnte, wie heftig sie selbst ihn anklagte, weil er dieser Familie ein paar Tage lang das Paradies gezeigt hatte und dann das Tor wieder zufallen ließ.

Geisterballett
1
    Es dauerte lange, bis das Entsetzen und der Schmerz, die über das Haus in der Grimmaischen Gasse hereingebrochen waren, ihre Macht einbüßten. Zu groß war die Hilflosigkeit gewesen, als sie sich alle um das kleine Bett scharten und begreifen mussten, dass nicht sie selbst es waren, die über die menschliche Existenz entschieden. Gesundheit oder Krankheit, Leben oder Tod – man mochte hoffen und planen, doch was wirklich geschah, darauf hatte man nur geringen Einfluss. Man musste es hinnehmen, jeder auf seine Art.
    Friedrich Wieck war der Erste, der wieder zur Tagesordnung überging. »Das Leben schreitet weiter«, sagte er in entschuldigendem Ton zu Clementine, die schweigend zusah, wie er schon bald wieder hin und her hastete, als hätte es jenen weißen Kindersarg nicht gegeben, auf den die Erdbrocken niederfielen und der zur Besinnung mahnte. »Die Geschäftswelt ist hart«, fuhr Friedrich Wieck fort, weil ihm Clementines Schweigen keine Absolution erteilte. »Die Konkurrenz wartet nur darauf, mich zu verdrängen. Wenn ich nicht ständig an die Qualität meiner Klaviere erinnere, werden sie vergessen.« Er schwieg kurz. »Das Gleiche gilt auch für Clara«, murmelte er dann. »Man muss sie präsentieren. Sie kann noch so gut sein, ein Genie am Pianoforte: Wenn sie sich nicht ständig zeigt, kräht bald kein Hahn mehr nach ihr.«
    Clementine presste die Lippen zusammen. »Du willst also wieder auf Reisen gehen«, stellte sie fest. Eigentlich wunderte sie sich nicht darüber. Sie hatte nur gehofftt,

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