Das Maedchen am Klavier
dich nicht ständig nach vorne drängst und morgen noch besser bist als heute.« Er flüsterte nun fast. »Gib dich niemals auf, mein Mädchen! Opfere dich nie für etwas, das außerhalb deiner eigenen Welt liegt! Wenn du es tust, verlierst du erst dein Ansehen und dann dich selbst.«
Clara streichelte seine Wange. »Sei nicht so ernst, Papa!«, sagte sie leise. »Das ist doch ein Freudentag heute.«
Friedrich Wieck nickte. »Sechzehn Jahre!«, murmelte er. »Da kann man sich wirklich noch freuen. Hast du übrigens nachgerechnet, wie alt ich gerade bin? Fünfzig Jahre! Ein halbes Jahrhundert.« Er lächelte plötzlich. »Da darf man schon ein wenig nachdenklich werden, nicht wahr?« Er wartete auf keine Antwort. »Jetzt aber ab ins Bett, Clara! Um sieben gibt es das Frühstück, und wir wollen doch nicht nachlässig werden, oder?«
Oben, in ihrem Zimmer, als sie sich ausgezogen und ihr Haar gelöst hatte, erinnerte sich Clara daran, dass sie eigentlich noch einen Brief an ihre Freundin schreiben wollte, um ihr von den vielen Geschenken zu berichten, die nun fein säuberlich geordnet auf dem kleinen Sofa vor dem Fenster lagen. Doch eigentlich war sie schon zu müde für einen Brief.
So viel war geschehen an diesem Tag und so viel gesagt worden. Sechzehn Jahre. Erwachsen. Ein Grund zur Freude, nicht zum Philosophieren. Mit fünfzig Jahren mochte das ja anders sein. Vielleicht konnte einer wie ihr Vater gar nicht mehr verstehen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab und dass sein kleiner Russe sehr wohl wusste, wie er zu entscheiden hatte, um im weiteren Leben glücklicher zu werden als jemals ein anderer Mensch. Fast ein wenig Mitleid und Herablassung empfand Clara für ihren alten Vater, während sie sich von der sorglosen Arroganz der Jugend in den Schlaf wiegen ließ und die Erinnerungsbilder des Tages vor ihren geschlossenen Augen tanzten.
Liebeswirren
1
Ein Leben voller Tätigkeit, voller Begegnungen, Gespräche und Diskussionen. So viele Augen, die zu ihr emporblickten, wenn sie in die Tasten griff und zuweilen das Gefühl hatte, sich zu verströmen! Mit jedem Mal mehr genoss sie ihre Konzerte, das unterschwellige Summen und Brausen im Saal, bevor die Stille eintrat, die sie, Clara Wieck, durchbrechen und füllen sollte. Alles schaute auf sie und lauschte ihrer Musik. Manchmal kam es ihr vor, als ob sie mit den Klängen eins würde, sich in ihnen auflöste und über ihre körperliche Existenz hinweg emporgetragen würde. Aus der Höhe blickte sie herab auf das fremde junge Mädchen, das am Klavier saß und sich selbst vergaß. Im Dunkel fühlte sie sich dann und zugleich im hellsten Licht, doch niemals hätte sie gewagt, über diesen Zustand zu sprechen. Sie war sicher, dass kaum jemand sie verstehen würde.
Ein großer Abend sollte es werden im Saal des Leipziger Gewandhauses. Wer in der Stadt die Musik liebte oder zumindest als kultiviert gelten wollte, hatte sich um Karten bemüht. Kein Platz war leer geblieben, und die da waren, fühlten sich wacher als sonst, neugierig und bereit, sich auf das Abenteuer der folgenden Stunden einzulassen. Ein »Extrakonzert« hatte der neue Musikdirektor versprochen, und wenn er das sagte, würde es wohl so sein. Immerhin hatte man sich in ihm einen ganz Großen in die Stadt geholt, und heute sollte er zeigen, was er bieten konnte.
Wie es das angekündigte Werk verlangte, warteten auf der Bühne drei Konzertflügel. Ein Wagnis mochte es schon sein, ausgerechnetJohann Sebastian Bach aus der Versenkung zu holen, doch es hatte sich bereits herumgesprochen, dass der große Alte dem genialen Jungen besonders am Herzen lag. Darum hatte sich Mendelssohn wohl auch entschlossen, selbst an einem der Klaviere Platz zu nehmen. Ein schöner Mann, wie die Damen feststellten und insgeheim – mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen – auch einige Herren. Am zweiten Klavier saß der Pianist Louis Rakemann, der mehreren Anwesenden als Davidsbündler Walt bekannt war. Besonders anregend wurde es empfunden, dass auch die junge Wieck-Tochter an dem Konzert teilnahm. Die Dritte im Bunde, sozusagen. Kein Kind mehr, wie manche feststellten, die ihr in letzter Zeit nicht begegnet waren, auch wenn man sie oft genug beobachten konnte, wie sie durch die Parks rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her – bestimmt eine Idee ihres Vater, den man ja als Gesundheitsapostel kannte.
Es war das erste Mal, dass ein Werk von Bach im Gewandhaus erklang. Mancher mochte die Ungerechtigkeit
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