Das Maedchen am Klavier
könnte dich in Russland aussetzen oder irgendwo mitten in Frankreich: Du würdest trotzdem immer wieder nach Hause finden.«
»Meine Taube« oder manchmal auch »mein Kätzchen« – wenn alles lief, wie er es wollte, konnte Friedrich Wieck ein zärtlicher Vater sein, allerdings nur für Clara. Seine anderen Kinder blieben ihm fremd.
In jenem Herbst, als Clara erwachsen geworden war, zog es sie noch mehr als bisher ins Freie. Diesmal aber ging es weniger darum, in frischer Luft neue Kraft zu gewinnen, als um ganz zufällige Begegnungen mit einem gewissen Herrn Schwärmerer oder Fantasiemenschen, dem »somnambulen Schumann«, wie Friedrich Wieck ihn neuerdings nannte, weil ihm diese Bezeichnungseine Abneigung und sein Missfallen noch deutlicher auszudrücken schien. Maulfaul sei er und in Gesellschaft unergiebig, stellte Friedrich Wieck weiters fest. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wäre der junge Mann ganz aus seinem und vor allem aus Claras Leben verschwunden. Dennoch musste Friedrich Wieck eingestehen, dass sich Robert Schumanns Stellung inzwischen so weit gefestigt hatte, dass er aus dem Leipziger Kultur- und Gesellschaftsleben nicht mehr wegzudenken war. Seine Zeitschrift florierte und seine Kompositionen wurden gerühmt. Auch Clara wurde in Kennerkreisen immer wieder gebeten, den »Carnaval« zu spielen, die »Papillons«, die »Toccata« oder die »Impromptus« . Scheinbar über Nacht war Robert Schumann zu einer festen Größe des Musiklebens geworden, obwohl er so schweigsam war und ihm die sonnige Leichtigkeit seines Freundes Mendelssohn fehlte.
Friedrich Wieck ahnte nicht, dass sein vernünftiges Clärchen seit ihrem berühmten sechzehnten Geburtstag die nachmittäglichen Spaziergänge noch viel mehr genoss als bisher. Unerwartet wie der Schurke einer finsteren englischen Tragödie war Robert Schumann am Tage nach dem Fest aus dem Schatten jener Eiche getreten, in deren Rinde Friedrich Wieck einst vergebens versucht hatte, die Initialen seiner vergänglichen Liebe zu verewigen.
»Guten Tag, liebe Clara!«, grüßte Robert Schumann und schwang seinen Hut. Von »Mamsell« oder »gnädiges Fräulein« keine Rede. »Clara« und »Sie« – so war es von nun an, und Clara blieb bei »Herr Schumann«. Was sich veränderte, war allerdings der Tonfall, in dem sie miteinander redeten. Immer leiser und vertraulicher, auch wenn weit und breit kein neugieriger Spaziergänger zu entdecken war. »Liebe Clara«, dann »meine liebe Clara« und zuletzt ganz leise: »Clärchen, mein liebes Clärchen!«
Auch Clara ließ sich nicht lumpen und ging freigebig mit ihren Blicken und sanften Worten um. Von Tag zu Tag schmelzender und leiser, sodass Robert Schumann immer näher an sie herantreten musste, um ihre Worte zu verstehen.
Auch er selbst nahm seine Stimme immer mehr zurück. Da erohnedies schon sehr undeutlich zu artikulieren pflegte, verstand Clara manchmal überhaupt nicht mehr, was er sagte. Trotzdem fragte sie nicht nach, denn der Sinn der verschwommenen Rede war eindeutig.
»Ich liebe Sie, Clara!«, gestand er eines Nachmittags, während seine eleganten Schuhe im Schlamm eines herbstlichen Platzregens versanken. Doch beide merkten nicht einmal, dass ihnen der Regen übers Gesicht floss. Unwillkürlich musste Clara an die Spaziergänge mit Ernestine von Fricken denken, bei denen – das durchschaute Clara inzwischen – Robert Schumann der vermeintlichen Millionenbraut heftig den Hof gemacht hatte. Trotzdem war der Klang seiner Stimme damals ganz anders gewesen: weniger ernsthaft, jede Bemerkung eher wie ein Scherz. Ein junger Mann versuchte, eine Freundin mit seiner Ironie aus der Reserve zu locken, sie mit jedem Wort und jedem Blick gleichsam anzuheizen. Ernestine war mehr als bereitwillig darauf eingegangen und hatte noch das Ihre beigetragen, die Stimmung weiter anzufachen.
Mit Clara redete Robert Schumann ganz anders. Manchmal hatte sie sogar den Verdacht, er sehe hinter ihr immer die Respektsperson ihres Vaters stehen und wage sich deshalb nicht ganz aus der Reserve. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die vielen Tage der letzten großen Tournee, als sie immer wieder mit Carl Banck, dem angeblich so Mausgrauen, allein gewesen war. Mehr als einmal hatte der gar nicht so schüchterne junge Mann nach ihrer Hand gefasst und sie nur unter Protest wieder losgelassen. Clara war überzeugt, dass er noch viel weiter gegangen wäre, hätte sie es ihm nur erlaubt. Auf seinen Respekt für ihren Vater schien er in
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