Das Maedchen am Klavier
etwas anderes über Robert Schumann, und schlimm war alles. Hätte man Clara gefragt, dachte sie und hatte plötzlich Tränen in den Augen, hätte man sie gefragt, so hätte sie gesagt, sie habe ihn als einen liebevollen Menschen kennengelernt, der ihr und ihren Brüdern einst Märchen erzählt habe, der fürsorglich und zärtlich zu ihr war. Ein gütiger, nobler und vornehmer junger Mann, der es nur leider allzu schwer hatte, seine Träume zu verwirklichen.
Eusebius und Florestan. Sie hatte ihn nur als Eusebius kennengelernt, den freundlichen, sanften, und nach Eusebius sehnte sie sich. Immer noch. An ihn dachte sie, wenn sie ein neues Stück einstudierte und sich vorstellte, was er wohl von ihr erwarten würde. Ihn hatte sie auch vor Augen, als sie mitten auf der Tournee an einer neuen Komposition arbeitete, die sie vorerst »Bellini-Variationen« nannte – ein anspruchsvolles Bravourstück im Genre der Bearbeitung von italienischen Opernmelodien.
Sie wusste, dass Robert Schumann nichts für italienische Opern übrighatte. Trotzdem meinte sie, sie könnte ihn mit ihrer Auslegung vielleicht beeinflussen. Als sie damit fertig war, fühlte sie sich stolz und zufrieden, als habe sie einen ganz neuen künstlerischen Weg beschritten. Nach mehreren Tagen aber kamen ihr Zweifel und sie fragte sich, ob das neue Werk nicht vielleicht gar einen Rückschritt darstellte oder ob sie andererseits womöglich schon allzu sehr vom Geschmack Robert Schumanns beeinflusst war und sich angewöhnt hatte, Musik auf seine Weise wahrzunehmen.
Anderthalb Jahre trafen sie einander nicht wieder. Nur einmal sah sie ihn von fern, als sie mit ihrem Vater und Nanni für einen kurzen Zwischenaufenthalt nach Leipzig kam. Nach ihrem Spaziergang wollte sie im »Kleinen Kuchengarten« eine Schokolade trinken. Als sie eintrat, sah sie Robert Schumann an einem Tisch sitzen. Er war in Begleitung eines jungen Mannes, der ihr flüchtig als Enkel des großen Goethe bekannt war. Beim Anblick ihreseinstigen Liebsten erschrak sie so sehr, dass sie auf der Stelle stehen blieb und ihn entsetzt anstarrte.
Auch er bemerkte sie sofort. Mitten im Wort verstummte er. Er wurde so blass, wie Clara ihn noch nie gesehen hatte. Ihr war, als befände sie sich mit ihm ganz allein auf der Welt. Die vielen Besucher des Cafés waren nicht mehr vorhanden. Sie hörte keine Gespräche und kein Lachen, keine leise Musik und kein Klirren von Besteck.
Langsam erhob sich Robert Schumann und machte Anstalten, auf sie zuzugehen. Erst jetzt kam sie wieder zu sich. Sie drehte sich um und flüchtete ins Freie. Sie lief und lief und war sicher, dass er ihr nicht folgen würde.
Zwei Wochen später legte ihr Friedrich Wieck einen Zeitungsartikel aufs Klavier. In seiner »Neuen Zeitschrift für Musik« hatte Robert Schumann einen erfundenen Bericht über einen angeblichen »Kunsthistorischen Ball« veröffentlicht. Schonungsloser Erzähler war er selbst als wilder Florestan. Als Hauptdarsteller traten in karikierter Form Friedrich Wieck als geldgieriger alter Patron und Carl Banck als lächerlicher Schalträger auf. Vor allem aber gab es da unverkennbar auch Clara als ein widersprüchliches Doppelwesen, zusammengesetzt aus Beda, einer bezaubernden, zarten Malerin, und Ambrosia, einer liebeshungrigen Riesin.
Auf jenem Kunsthistorischen Ball trafen sie alle aufeinander und Florestan erlitt aus Liebe zu Beda »Schmerzen wie Champagner«, während ihn Ambrosia gegen seinen Willen schamlos bedrängte. Er wies sie zurück und war sich keiner Verfehlung bewusst, als ihn der alte Patron auf einer Treppe abfing und unflätig beleidigte. Zu überrascht war Florestan, um sich zu verteidigen. Beschämt schwieg er. »Dass ich ihm etwas Dumpfes antwortete, wäre zu erwarten gewesen«, schrieb Florestan-Robert. »Dass ich aber Bedas wegen wie ein Lamm vor ihm stand und nichts sagte, beim Himmel, verzeihe ich mir nie.«
»Sieh dir das an!«, sagte Friedrich Wieck. »Dann weißt du, wes Geistes Kind dieser Mensch ist und wie er über uns denkt.«
Clara las die Geschichte wieder und immer wieder. War esmöglich, dass Robert Schumann in ihr dieses Doppelwesen Beda/ Ambrosia sah? Er, der selbst so viele widersprüchliche Eigenschaften in sich trug, dass ein einziger Doppelgänger für ihn eigentlich gar nicht ausreichte! Und: wie gekränkt musste er sein, dass er einen solchen Aufsatz geschrieben und sogar veröffentlicht hatte!
Viele Stunden verstrichen. Immer wieder weinte Clara, ohne es zu merken.
Weitere Kostenlose Bücher