Das Maedchen am Klavier
»Meine kleine Clara!«, würde sie flüstern, obwohl ihr Kind doch schon mitten im Leben stand und ihm mehr abverlangt wurde als den meisten Erwachsenen. »Meine kleine Clara!«, und Clara würde sich an sie schmiegen und sie »Mama« nennen. Mama: Clara konnte sich schon nicht mehr erinnern, dieses Wort jemals ausgesprochen zu haben.
Der kleine Klavierstümper traktierte noch immer sein Instrument. »Hänschen klein ...« Wenn er doch nur endlich in seine weite Welt hineinginge und den Platz frei machte, der einer ganzanderen zukam! »Hänschen klein ...« Clara war überzeugt, dass es nie eine Zeit gegeben hatte, in der sie so ungeschickt auf die Tasten eingehackt hätte.
Kurz entschlossen klopfte sie an. Leise zuerst, dann lauter und schließlich kräftig und ungeduldig, weil sie nicht glauben konnte, dass man sie überhörte.
»Hänschen klein« verstummte. Drinnen in der Wohnung wurde eine Tür geöffnet und dann auch die Tür, an der Clara wartete.
Es war ihre Mutter. Clara war sicher, dass sie es sein musste, obwohl die vielen Jahre der Trennung das einst so klare Erinnerungsbild verwischt hatten und anstelle der jugendlichen Schönheit von einst nun eine Frau mittleren Alters vor ihr stand.
»Ja, bitte?«, fragte Marianne und blickte forschend in Claras Gesicht. »Was kann ich für Sie tun?«
Clara antwortete nicht. Es tat ihr weh, dass ihre Mutter sie nicht erkannte. »Ich bin es«, sagte sie leise.
Marianne starrte sie an. »Clara?«, flüsterte sie ungläubig.
Clara nickte. »Darf ich hereinkommen?«
Marianne erschrak. »Entschuldige bitte! Natürlich darfst du hereinkommen.« Sie trat zur Seite und ließ Clara ein.
Eine winzige Diele mit drei Türen, unbeleuchtet und unbeheizt. Nur aus dem Raum, in dem wohl das Klavier stand, drang ein schmaler Lichtstreifen.
»Frau Bargiel!«, rief plötzlich eine ungeduldige Frauenstimme. »Wo bleiben Sie denn? Soviel ich weiß, haben wir hier Musikunterricht.«
Marianne zuckte zusammen und eilte in den Raum. »Verzeihen Sie bitte, meine Liebe!«, sagte sie hastig. »Ich habe unerwartet Besuch bekommen.«
»Wir haben noch fünf Minuten. Bezahlt ist bezahlt.«
»Selbstverständlich.«
Clara folgte ihr. Sie konnte nicht glauben, dass sich ihre stolze, energische Mutter so kleinlaut und unterwürfig verhielt.
Auf einem hohen Hocker vor dem Klavier thronte ein kleiner Junge und starrte ihr mürrisch entgegen. Daneben saß einebieder aussehende Frau, wahrscheinlich seine Mutter. Als sie Clara sah, stand sie langsam auf. »Ihr Besuch, ja?«, fragte sie und musterte Clara mit einem Ausdruck neidvoller Abneigung.
»Eine Verwandte von auswärts«, erklärte Marianne.
»Eine Verwandte, soso. Ich fürchte, unter diesen Umständen kann das heute kein ordentlicher Unterricht mehr werden.«
Marianne zuckte bedauernd die Achseln. »Es tut mir leid. Ich werde dafür beim nächsten Mal auf mein Honorar verzichten, wenn es Ihnen recht ist.«
Hänschen kleins Mutter spitzte die Lippen. »Na dann«, murmelte sie. »Aber ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Nächste Woche sollte alles wieder seine Ordnung haben.«
Marianne brachte die beiden zur Tür. Mit Unbehagen bemerkte Clara, dass Marianne dem mürrischen Kind sogar noch zulächelte und ihm die Mütze über die Ohren zog. Dann kam sie zurück. Clara sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Verzeih mir, Clara!«, sagte sie. »Aber wir brauchen diese Leute.«
Clara starrte sie an. »Eine Verwandte von auswärts also«, murmelte sie gekränkt.
Marianne wischte sich eine Träne von der Wange. »Niemand hier weiß, dass ich schon einmal verheiratet war«, erklärte sie. »Niemals würden sie einer geschiedenen Frau ihre Kinder anvertrauen.« Sie lächelte bitter. »Und wenn doch, so würden sie das Honorar mindestens um die Hälfte kürzen.«
Clara begann zu ahnen, unter welchen Bedingungen ihre Mutter lebte. »Mama!«, sagte sie nun doch, leise und wie zur Probe. »Mama!«
Erst jetzt schluchzte Marianne auf und schloss sie in die Arme.
Es war ein Gefühl, das Clara bisher nicht gekannt hatte. Viele Menschen umarmten sie, doch das hier war ihre Mutter! Erst jetzt entschloss sich Clara, ihre Handschuhe auszuziehen und Hut und Mantel abzulegen.
»Ich weiß, wie erfolgreich du bist«, sagte Marianne, während sie Claras Sachen auf einen Sessel legte und dabei unwillkürlich über den feinen Stoff des Mantels strich. »Ich bin so stolz aufdich! Dein Talent, das hast du von mir. So wie du, so hätte ich auch werden
Weitere Kostenlose Bücher