Das Maedchen am Klavier
können.« Bei allem Stolz klang es bitter und fast ein wenig vorwurfsvoll. »Aus der Zeitung weiß ich, dass sich dein Vater immer als großer Pädagoge feiern lässt. Er sollte einsehen, dass er seine Triumphe nur deinem Talent verdankt. Ich hoffe auch, er kassiert deine Honorare nicht allein für sich. Sei bloß vorsichtig! Ich weiß, wovon ich rede.«
Clara runzelte die Stirn.
Marianne merkte, dass sie zu weit gegangen war. »Deine Brüder«, wechselte sie hastig das Thema, »mein Alwin und der kleine Gustav, wie geht es ihnen?«
Clara zuckte die Achseln. »Gut, glaube ich«, antwortete sie. »Ich bin ja so selten zu Hause. Alles läuft immer gut in Leipzig.«
»Sie müssen schon groß sein.«
»Ungefähr so wie ich.«
Marianne lächelte. »Große Kinder«, sagte sie nachdenklich. »Das ist gut. Das habt ihr ebenfalls von mir. Sind sie auch so dunkel?«
»Dunkle Haare, dunkle Augen.«
»Ganz anders als ihr Vater. Wie sehen denn die Kinder aus seiner zweiten Ehe aus?«
»Rotblond und helle Augen.«
Marianne war zufrieden. »So ist es recht. Man soll erkennen, welche von den Wieck-Kindern von mir sind. Meine Kinder. Man sieht es doch auch an dir sofort.« Sie zog Clara neben sich auf ein kleines Sofa am Fenster. »Wie lange hast du Zeit?«, fragte sie.
»Eineinhalb Stunden.«
»Nur? Das sieht deinem Vater ähnlich. Wo logiert ihr denn?«
»Im ›Hôtel de Russie‹.«
»Nicht übel. Unsereiner würde nicht einmal wagen, dort durchs Portal zu treten.«
Immer deutlicher merkte Clara, wie unzufrieden ihre Mutter war. Doch wie das Haus, in dem sie wohnte, versuchte sie, den Anschein von einst aufrechtzuerhalten. Sie war adrett gekleidet,ein einfacher dunkler Rock und eine weiße Bluse mit einem Spitzenkragen. Über dem obersten Knopf eine kleine Brosche. Eine Gemme mit einem Mädchenkopf. Ob man sie früher einmal selbst so dargestellt hatte, die hübsche Kantorstochter mit dem großen Musiktalent?
»Sogar im Gewandhaus bin ich aufgetreten«, sagte sie leise, als hätte sie Claras Gedanken erraten. Dann erzählte sie von der Krankheit ihres Mannes, die alle Hoffnung auf eine angenehme Zukunft zerstört hatte. Ohne Liebe redete Marianne und ohne Mitleid. Bei jedem Satz spürte Clara, wie heftig ihre Mutter mit dem Schicksal haderte.
Immer wieder entstanden Gesprächspausen. Als Friedrich Wieck die Besuchszeit auf neunzig Minuten begrenzt hatte, hatte Clara gemeint, das wäre viel zu wenig. Stundenlang würde sie mit ihrer Mutter sprechen wollen, hatte sie gedacht, tagelang sogar, nach den vielen Jahren, die sie einander nicht gesehen hatten. Nun aber kam es ihr vor, als wäre die Uhr auf dem niedrigen Bücherbord stehen geblieben. Auch das Feuer in dem kleinen Eisenofen war erloschen, und es wurde immer kälter.
»Ich möchte dich so vieles fragen«, gestand Marianne. »Aber es ist so schwer, aufeinander zuzugehen, wenn man so lange getrennt war.«
Clara nickte. »Spielst du noch regelmäßig Klavier?«, erkundigte sie sich. »Ich meine, richtig, nicht nur als Lehrerin.«
Marianne senkte den Kopf. »Jeden Tag«, sagte sie leise. »Diese Sehnsucht nach Musik hört niemals auf.«
Clara verstand, was sie meinte. Vielleicht konnten sie einander doch noch näherkommen.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, laut und fordernd.
Marianne zuckte zusammen. »Das muss dein Vater sein«, sagte sie mit harter Stimme, die Clara wieder an die Auseinandersetzungen erinnerte, deren Zeugin sie in ihrer Kindheit geworden war.
Marianne erhob sich und ging mit entschlossenen Schritten zur Tür. Ihre Absätze knallten auf dem Holzboden.
Draußen stand Friedrich Wieck. Er nahm seinen Hut ab. »Guten Tag, Madame«, sagte er förmlich und ohne Marianne ins Gesicht zu blicken. »Ich bin gekommen, meine Tochter abzuholen.«
»Sie ist auch meine Tochter. Eineinhalb Stunden sind zu wenig nach dreizehn Jahren.«
Friedrich Wieck zog Clara am Arm zu sich. »Wir wollen uns verabschieden, Clara.«
Clara umarmte ihre Mutter. »Ich kenne dein Repertoire, Clara«, sagte Marianne und strich ihr ein Löckchen hinter die Ohren. »Zu viele Bravourstücke. Du brauchst nicht mehr zu beweisen, wie virtuos du bist. Du musst Mozart spielen und Schubert. Das ist Musik vom Himmel. Damit eroberst du die Herzen.«
Friedrich Wieck setzte seinen Hut wieder auf. »Wir gehen, Clara!«, gebot er und stieg die Treppe hinunter. Clara folgte ihm, den Blick zurück auf ihre Mutter gerichtet, die vor der Tür stand und ihnen nachschaute. Fast
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