Das Maedchen am Klavier
gleichzeitig hoben sie beide den Arm, um einander zuzuwinken. Mama!, dachte Clara, aber sie sagte nichts.
Auf dem Gehsteig vor dem Haus begegnete ihnen ein weißhaariger alter Mann, dessen eine Wange gelähmt herunterhing. An jeder Hand hielt er ein Kind. Als er Friedrich Wieck bemerkte, blieb er stehen und starrte ihn an. Friedrich Wieck erwiderte ungerührt seinen Blick und eilte dann weiter. Der alte Mann schaute ihm nach. Clara kam es vor, als wären soeben zwei Menschen aus gegensätzlichen Welten aufeinandergetroffen. Noch nie war ihr bewusst geworden, wie straff und energisch sich ihr Vater hielt und wie elegant er gekleidet war: ein erfolgreicher Impresario eben, weltgewandt und selbstsicher. Der andere, der ihm nachschaute, wirkte ungepflegt und schlaff. Erst jetzt fiel Clara auf, dass er trotz der Winterkälte nicht einmal richtige Schuhe trug, sondern nur Hauspantoffel. Seine beiden Kinder, dachte Clara, waren allerdings besonders hübsch. Dunkle Haare, dunkle Augen ... Sie sah ihnen nach, wie sie ins Haus hüpften. Erst als die Türe zugefallen war, erschrak Clara und begriff, wem sie da begegnet war.Nach dem Wiedersehen mit Marianne kam Friedrich Wieck nicht mehr zur Ruhe. Jeden Morgen wachte er schlecht gelaunt auf, und diese Stimmung änderte sich auch bis zum späten Abend nicht. Das Personal im »Hôtel de Russie« stob auseinander, wenn er auftauchte, und einige von Claras kleineren Konzerten wurden von der Presse nicht besprochen, weil kein Kritiker mit Friedrich Wieck zusammentreffen wollte. »Altes Ekel!«, beklagte sich Claras Zofe Nanni sogar ihr gegenüber, und Clara tadelte sie deswegen nicht.
Clara gegenüber war er freundlich und ruhig, immer aber ein wenig wie ein Kranker, der sich zusammennimmt, um mit seinem Leiden niemandem zur Last zu fallen. Einmal überraschte sie ihn, wie er am Fenster stand und plötzlich leise aufschluchzte. Als er sie bemerkte, täuschte er einen Hustenanfall vor und gab sich unnatürlich heiter.
Vom Personal in Leipzig hatte Clara schon als Kind aufgeschnappt, dass ihr Vater und Marianne einander zu Anfang sehr geliebt hatten. Clara fiel es schwer, sich die Leidenschaft vorzustellen, von der August mit lüsternem Grinsen berichtete. Sie kannte ihre Eltern immer nur als Feinde mit Hass im Blick und in der Stimme. Wie war es möglich, dass sich der Zorn aufeinander nicht einmal in dreizehn Jahren beruhigt hatte? Jeder von ihnen hatte doch inzwischen sein eigenes Leben, und keiner hatte es leicht, auch wenn Friedrich Wieck nun in den feinsten Hotels abstieg und seit neuestem sogar einen Siegelring am kleinen Finger trug.
Sie dachte an Robert Schumann, der sie doch auch geliebt hatte, so wie sie ihn. Auch sie waren vom Schicksal getrennt worden, doch es schien Clara unvorstellbar, dass jemals eine so tiefe Abneigung zwischen ihnen herrschen könnte wie zwischen ihren Eltern. Dann aber fiel ihr der »Kunsthistorische Ball« ein und sie fing an zu weinen.
»Es wird Zeit, dass wir nach Leipzig zurückkehren«, sagte Friedrich Wieck eines Morgens. »Wir haben hier erreicht, was wir wollten. Mehr ist nicht möglich.« Er lächelte und tätschelteClaras Wange. »Wir sind beide ein wenig müde. Während der Sommermonate kannst du dich erholen und dich mit den neuesten Liszt-Stücken auseinandersetzen. Vielleicht ist auch für dich etwas dabei.« Er setzte sich an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarre an. »Wenn wir zurückkommen, wird sich in unserem Haus eine kleine Veränderung ergeben haben.« Er tändelte mit der Zigarre herum, während Clara beunruhigt abwartete.
Dann brach es plötzlich aus ihm hervor: Von ihrer Geburt an hätten Alwin und Gustav ihm größte Sorge bereitet. Aufsässig und ungezogen seien sie immer gewesen, in der Schule mittelmäßig und in der Musik auch nichts Besonderes. Dabei halte sich Alwin für einen großartigen Geiger und bilde sich ein, es ließe sich bestimmt ein Orchester finden, das ihn aufnehmen wolle ... »Wenn du dich nur ein wenig für mich einsetzen würdest, Papa, dann wäre es viel leichter für mich. Clara hilfst du doch auch!‹« Friedrich Wieck schlug auf den Tisch. »Stell dir vor, das wagte er mir ins Gesicht zu sagen, dieser Nichtsnutz! Dabei habe ich ihn sogar bei Konzertmeister David studieren lassen. Doch von einem Engagement ist noch immer keine Rede.«
Clara schüttelte den Kopf. »Aber Papa!«, rief sie. »Alwin ist doch erst sechzehn, und er spielt wirklich gut. Bestimmt wird er noch seinen Weg
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